Wissenschaftliche Erfindungen und Entdeckungen werden nicht immer in den Disziplinen gemacht, die eigentlich dafür zuständig sind. Manchmal sind es benachbarte Disziplinen, Bereiche des Alltags, der Kunst oder Technik, in denen neue wissenschaftliche Fragestellungen überhaupt erst aufkommen. Für die Geschichte der Akustik trifft dies in besonderem Maße zu. Denn als Lehr- und Studienfach begann sich die Akustik erst Ende des 19. Jahrhunderts zu etablieren. Zwar reichen erste Definitionen der Disziplin weiter zurück: Der Mathematiker Joseph Sauveur forderte schon 1701, man müsse der Musiktheorie mit ihrer Vorliebe für wohlklingende Töne eine allgemeine Wissenschaft des Schalls gegenüberstellen. Und Sauveurs Forderung wiederum ging ein wachsendes Interesse an der physikalisch-mathematischen Bestimmung und experimentellen Erforschung des Schalls seit dem 16. Jahrhundert voraus. Gerade für den Zeitraum des 16. bis 19. Jahrhunderts waren es aber vorwiegend Instrumentenmacher, Musiker, Architekten und Ingenieure, deren praktischer Umgang mit Schall die akustische Theoriebildung einforderte. Im vergangenen Jahrhundert lag die Produktion akustischen Wissens dann in den Händen so unterschiedlicher Disziplinen wie der Physik, Medizin, Zoologie, Psychologie, Phonetik, Linguistik, Philosophie, Musikwissenschaft und Architektur.
So profitierte die Raumakustik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Subdisziplin der Physik galt, von der Erfindung eines fachfremden Kollegen: 1905 stellt der Wiener Physiologe Sigmund Exner das Akustometer vor (Abbildung 1).
Zweck dieses Instruments war die Messung des Nachhalls in Hörsälen. Als Leiter des Physiologischen Instituts in Wien hatte Exner im Vorjahr den Bau eines neuen Hörsaals begleitet und dabei festgestellt, dass die Raumakustik noch recht wenig entwickelt war. Zwar hatte der amerikanische Physiker Wallace Clement Sabine erst kurz zuvor die Nachhallformel entdeckt und damit erste Prognosen über die akustische Qualität architektonischer Entwürfe ermöglicht. Exner hielt Sabines Messungen des Nachhalls aber für unzuverlässig: Sabine hätte sich auf das eigene Ohr verlassen und das Zeitintervall zwischen An- und Abklang eines Schallereignisses gemessen. Als Physiologe meldete Exner an dieser Methode Zweifel an – nicht nur, weil er wusste, dass die menschliche Hörschwelle (und somit die Bestimmung der Nachhallzeit) variabel ist. Exner vermutete auch, dass das Ohr den Nachhall nur bedingt wahrnehmen kann. Grund dafür waren seine physiologischen Studien zum Phänomen des Nachbildes. Schon 1886 hatte Exner untersucht, was Probanden vor dem inneren Auge sehen, wenn sie zunächst in unterschiedlich farbige Lichtquellen blicken und dann die Augen schließen (Abbildung 2).
Zwanzig Jahre später, als Exner sich für Fragen der Raumakustik zu interessieren begann, beschrieb er ähnliche Prozesse für das Gehör: Auch im Ohr hinterlasse ein Schallereignis ein akustisches Nachbild, das nachklinge, wenn die Schallquelle längst verstummt sei. Unmöglich ließe sich der Nachhall eines Auditoriums daher mit bloßem Ohr exakt bestimmen. Denn das vom Ohr erzeugte Nachbild vermische sich mit dem Nachhall des Raums.
Mit dem Akustometer erfand Exner ein Messinstrument, dass diesem Problem Abhilfe schaffen sollte. Es bestand aus zwei elektrischen Leitungen, die vom Auditorium in einen Nebenraum führten (Abbildung 3): Über die erste Leitung konnte man vom Nebenraum aus einen Pistolenschuss im Auditorium auslösen. Der Schuss blieb aber ungehört und rief so auch keine akustischen Nachbilder im Ohr des Experimentators auf. Denn über die zweite, zeitversetzt operierende Leitung konnte man nur den Nachhall vernehmen und dessen Stärke und Dauer messen. Exner warb damit, dass das Akustometer erstmals verlässliche Zahlen lieferte, um den Nachhall unterschiedlicher Hörsäle zu vergleichen. Er selbst erstellte lange Vergleichstabellen und zitierte triumphierend aus Goethes Faust: „Was man schwarz auf weiß besitzt,/ Kann man getrost nach Hause tragen.“
Exner beschränkte sich also nicht auf die physiologische Untersuchung subjektiver Wahrnehmungsprozesse. Er wollte der Wissenschaft auch neue Mittel zur objektiven Datenerhebung bereitstellen. Sein Wissen um die Unzulänglichkeit des menschlichen Ohres motivierte ihn zur Entwicklung des Akustometers.
Disziplinengeschichtlich steht das Akustometer für eine epistemische Verschränkung von Elek-troakustik, Raumakustik und Physiologie des Hörens. Kulturgeschichtlich markiert es ein neues Konzept von Nachhall und damit von raumakustischer Hörkultur. Denn der Begriff des Nachhalls wurde in der europäischen Architekturtheorie des späten 18. Jahrhunderts eingeführt – zu jener Zeit, als mit dem bürgerlichen Theater- und Konzertwesen die Notwendigkeit aufkam, einer großen Publikumszahl gleiche Hör- und Sehbedingungen zu bieten und Störeffekte wie allzu lange Nachhallzeiten zu verhindern. Man verstand unter Nachhall das Zeitintervall zwischen dem Verstummen einer Schallquelle und dem Abfallen des Schalldrucks um 60 Dezibel unter die menschliche Hörschwelle. Beim Akustometer ist der Nachhall nicht länger an die menschliche Wahrnehmung gebunden und ebenso wenig an die Hörpraxis der Theater- und Konzertkultur, der das moderne Verständnis des Nachhalls entsprungen ist.
Vergleichbare Verschiebungen akustischen Wissens wird die neue Forschungsgruppe Episteme der modernen Akustik in den Blick nehmen. Sie widmet sich dem Akustischen in seiner Doppelfunktion als Gegenstand und als Produzent von Wissen. Die Forschungsgruppe fragt nach den Ermöglichungsbedingungen akustischen Wissens – geleitet von der Annahme, dass die Genealogie akustischen Wissens den Rahmen der Geschichte der exakten Wissenschaften sprengt und einen deutlich weiteren kulturgeschichtlichen Kontext betrifft. Der Fokus liegt deshalb auf religiösen, politischen und künstlerischen Praktiken, Medientechnologien und materiellen Kulturen, die ein neues Studium der Natur und Wahrnehmung des Schalls einforderten. Ein weiteres Interesse der Gruppe gilt akustischen Strategien der Wissensproduktion: Welches historische Wissen konnte allein auf akustischem Wege gewonnen oder repräsentiert werden? Wann und wie wurden deshalb akustische Apparate, Instrumente und Maschinen als alternative Forschungsmittel eingesetzt?
Diese Fragen werden mit Blick auf historische Einzelstudien beantwortet, die sich mit akustischen Subdisziplinen wie der Bioakustik, Elektroakustik und Unterwasserakustik befassen, oder spezieller mit Phänomenen wie dem akustischen Gedächtnis, der Hörkultur im Calvinismus, dem Material von Musikinstrumenten, mit Fahrstuhlmusik oder Schallfotografie. Daneben sind vier Arbeitsgruppen vorgesehen, bestehend aus jeweils 10–15 Kollegen, die über einen Zeitraum von drei Jahren mehrmals zusammentreffen und folgende Themen bearbeiten: (1) „Testing Hearing: Science, Art, Industry“ (2) „Sonic Objects in Transition: Knowledge, Science, Heritage“ (3) „Betwixt and Between: Sound in the Humanities and Sciences“ (4) „The Geography of Sound: Formation, Transformation and Circulation of Acoustic Knowledge and Practices“. Gemeinsam werden die vier Arbeitsgruppen eine Webseite aufbauen, die schwer zugängliches Quellenmaterial der Akustikgeschichte bereitstellt.
Die Forschungsgruppe Episteme der modernen Akustik basiert auf einer Kooperation zwischen dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und der Humboldt-Universität zu Berlin, und sie ist Teil des Berliner Zentrums für Wissensgeschichte. Die Gruppe wird zusätzlich durch die VolkswagenStiftung unterstützt. Weitere Kooperationspartner sind die University of Amsterdam, das Deutsche Museum in München, das DFG-Netzwerk Hör-Wissen im Wandel sowie das französische ANR-Projekt ECHO (=Ecrire l’Histoire de L’Orale).