Umbraphile oder Schattenwanderer, die süchtig nach der überwältigenden Größe totaler Sonnenfinsternisse sind, Noctcaeladoranten, also Menschen, die ein großes Interesse am Nachthimmel haben und eine starke Bindung an ihn verspüren – wer sind diese Leute, die die Sterne beobachten und Zeit und Geld in diese Tätigkeit investieren? Warum machen sie fortwährend quer durch das Land und manchmal auf der ganzen Welt Jagd nach Sonnen- und Mondfinsternissen und anderen Himmelsphänomenen? Warum übernehmen sie beharrlich die Aufgabe der Beobachtung, führen mühsame Korrekturen der Messgrößen von Himmelskörpern durch, obwohl sie ihr Material nur in privatem Rahmen veröffentlichen können? Was zieht sie zum Nachthimmel? Was sehen sie, wenn sie ihn Nacht für Nacht anstarren? In welchen Landschaften finden solche Begegnungen statt?
Meine künstlerische Praxis ist seit ein paar Jahren in der Naturwissenschaft verwurzelt, was sich in Inhalten, Konzepten, Medien und Techniken zeigt. Meine Arbeit schlägt verschiedene Richtungen ein und entwickelt sich mitunter von einer Erforschung der Selbstorganisation von Mustern, Formationen und Formbeziehungen zu einem eher neuen Interesse an Prozessen des Emergierens und an Emergenzverhalten.
In meinem aktuellen Forschungsprojekt untersuche ich die Schnittstelle zwischen Kunstpraxis, speziell der Zeichnung, und Astronomie durch die Brille der Metapher. „Parts Unknown“ ist das Ergebnis eines viermonatigen Aufenthalts in der Abteilung II des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Ideen und Praktiken der Rationalität, von März bis Juni 2012.
Ich bin der Vereinigung der Amateurastronomen (Amateur Astronomers Association, AAAD) in Neu-Delhi im Juli 1999 beigetreten. Damals dachte ich, sie wäre das, was in dieser Stadt einer Science-Fiction-Versammlung am nächsten kommt. Was ich antraf, war eine uneinheitliche, dynamische Gruppe von Physik- und Astrophysikstudenten, Fotografen, Unternehmern, Akademikern und Träumern, jeder von ihnen einzigartig und besonders. Sie verband eine gemeinsame Liebe zu Phänomenen am Sternenhimmel, ein tiefer Respekt vor der Natur und der Wunsch, die Freude am Beobachten und Auf-die-Jagd-gehen mit anderen Amateuren und der Allgemeinheit zu teilen.
Am 22. Juli 2009 erlebte Indien die längste totale Sonnenfinsternis des 21. Jahrhunderts, die erst am 12. Juni 2132 übertroffen werden wird. Trotz der Tatsache, dass eine Wolkendecke und Regen unsere Sicht auf die Sonnenfinsternis verhinderten, erwies sich die Erfahrung, während der sieben Minuten totaler Finsternis in Patna, Bihar, auf dem Dach des Patna Planetariums zu sein, als Wendepunkt.
Von Juli 2009 an bis einschließlich August 2010 reiste ich mit verschiedenen Personen im Land herum, um bestimmte Ereignisse am Sternenhimmel mitzuerleben und Orte von besonderer astronomischer Bedeutung zu besuchen. Nach Patna fuhr ich wegen der längsten totalen Sonnenfinsternis, nach Varkala, Kerala, wegen der annularen Sonnenfinsternis und von dort zu einigen der wichtigsten Wallfahrtsorte der indischen Astronomie: zum Indian Astronomical Observatory in Hanle, Ladakh, und zum Gebiet des Giant Meter Wave Radio Telescope in der Nähe von Pune. Ein Teil dieser Forschungen wurde im Rahmen einer Sarai Associate Fellowship der „City as Studio“-Initiative des Sarai Programme am CSDS (Centre for the Study of Developing Societies) in Delhi zwischen Februar und November 2010 durchgeführt.
Alle diese Touren waren außergewöhnlich; diese Orte, versteckt und fern jeder Zivilisation, weitab von Städten und Dörfern, sind beinahe Sinnbilder für die Menschen, die sie bevölkern. Auch die Astronomen entfliehen der Stadt so oft wie möglich, um die Sterne unverstellt und vergleichsweise unverfälscht zu sehen. Als ich in Leh und in Pune war, wurde mir klar, dass ich etwas ganz Ähnliches hier in Delhi mache. Ich lasse mich durch – oder eher über – die Stadt treiben, ohne mich jemals wirklich ganz niederzulassen. Die Astronomie bietet diese Form von Flucht, bietet diese Pilgerstätten (ich kann die Reise eines Eklipsen-Jägers nicht anders nennen) weit weg von Menschen und Siedlungen.
Geschichten, Gespräche und historische Berichte verbanden sich zu einer langsam wachsenden Audiochronik der fast besessenen Gruppe von Menschen, deren Leben sich durch den Nachthimmel verändert haben.
Für mich als Amateurastronomin und Künstlerin war dieser Prozess auch eine Übung in Selbstreflexion. Wo verortete ich mich selbst in dem Projekt, oder wo verortete sich Astronomie vielleicht innerhalb meiner künstlerischen Praxis? Was bedeutete es, zugleich Teilnehmerin und Beobachterin zu sein? Wie konnte man dies über die romantische Idee hinaus, in diesem Moment dort zu sein, weiterverfolgen, etwa in einem anderen Forschungsgebiet? Vielleicht vollkommen von seinen Ursprüngen losgelöst?
„Muss ja doch jedes Phantasiegebilde entweder ein schon wahrgenommenes Ding wiedergeben oder eine Verbindung von früher wahrgenommenen Dingen und Teilen sein, wie die Sphinxe, Sirenen, Chimären, Centauren usw.“
Zitat von Sagredo aus Galileo Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische [aus dem Italienischen übers. und erläutert von Emil Strauss, Leipzig 1891, S. 65] (Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, 1632).
In Imagining the Unimaginable (2002) beschreibt Ladina Bezzola Lambert detailliert die Rolle und Bedeutung der Metapher in der Poetik der frühen modernen Astronomie. 1610 veröffentlichte Galileo seine außergewöhnliche Schrift Sidereus Nuncius, die erste wissenschaftliche Abhandlung, die auf seinen Beobachtungen des Mondes, der Sterne und der Jupitermonde durch ein Teleskop beruhte. Seine Zeichnungen beschreiben einen mit Löchern und Narben bedeckten Mond, eine erstaunlich unebene Oberfläche.
„Diese Mondoberfläche, wo sie mit Flecken – wie der Schwanz des Pfaus mit dunkelblauen Augen – geschmückt ist, ähnelt jenen Glasgefäßchen, die, noch heiß in kaltes Wasser getaucht, eine gesprüngelte und wellige Oberfläche annehmen, weshalb sie vom Volk Eisbecher genannt werden.“ [Galileo Galilei, Sidereus nuncius, Nachricht von neuen Sternen u. a., Frankfurt am Main 1965, S. 89]
Wie Lambert ausführt, sind die Bilder, die Galileo heraufbeschwört, um die Welt des Mondes zu beschreiben, selber eine Art Chimären. Sie sind etwas, das für etwas anderes steht und damit die Grenzen des Bekannten und des Vorgestellten erweitert. Mithilfe dieser Argumentation lässt sich auch die Rolle der visuellen Darstellung in der heutigen Astronomie hinterfragen. Wie fangen aktuelle Techniken der Visualisierung Phänomene, die Millionen von Meilen entfernt sind, ein und übersetzen sie? Wie werden diese „Abbildungen“ gesehen, behandelt und verstanden, und was können sie uns über Abstraktion lehren?
Peter Galison und Caroline A. Jones erörtern in ihrer Einleitung zu Picturing Science Producing Art (1998) Bruno Latours Verfahren, Abwesenheit zu zeigen:
„Latour besteht darauf, dass die Dynamik dieses Sets von Symbolen (und Symbolen von Symbolen) nicht funktioniert, indem es direkt auf den Referenten verweist, sondern vielmehr durch einen komplexen Vermittlungsprozess, der selber Bedeutungsträger ist.“ [S. 18]
Im Begreifbarmachen des Fremden hat Projektion ihre Grenzen, wie bei Galileos Beschreibung der dunklen Flecken auf dem unteren Horn des Mondes. Aber Untersuchungen zu kreativen Problemlösungen haben gezeigt, dass eine Möglichkeit, neue Perspektiven auf ein Problem zu gewinnen, darin besteht, es neben etwas zu stellen, das keinen Bezug zu ihm hat, und damit das Vertraute … fremd zu machen.
„Parts Unknown“ ist die fünfte in einer Reihe von großen ortsspezifischen Wandzeichnungen, die eine Untersuchung von Landschaft als Lebewesen sind, dessen, was der britische Künstler Paul Morrison als „kognitive Landschaft“ oder rückblickende Landschaft bezeichnet hat. Jede Zeichnung wurde vor Ort innerhalb eines Zeitraums von 5 bis 90 Tagen hergestellt, die Wand wurde jeweils individuell angefertigt. Zu den fünf Orten gehören die Winchester School of Art, 2004 (GB), Vadhera Art Gallery, 2008 (Neu Delhi), Project 88, 2009 (Mumbai) und das Kiran Nadar Museum 2012 (Noida).
Diese fünfte Iteration am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte ist jedoch insbesondere eine Übung darin, zwischen unterschiedlichen Maßstäben als Bezugsrahmen hin- und herzuspringen – zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Um zu verstehen, welche Rolle die Vorstellungskraft beim Begreifen und Übersetzen von weit entfernten Räumen und Topografien spielt, suchte ich weniger nach Übereinstimmungen, sondern vielmehr nach Kontinuitäten zwischen den beiden Systemen.
Die Zeichnung ist ein Puzzle, das aus einer Vielzahl von unterschiedlichen „Rohstoffen“ oder „Quellen“ konstruiert und zusammengefügt ist. Während des Zeichenprozesses über einen Zeitraum von 12 Tagen vor Ort hat sich die Beziehung zwischen der Zeichnung und den Formen, von denen sie abgeleitet ist, nach und nach verwischt, bis jede reale Ähnlichkeit verschwunden ist. Der Charakter von Textur und Struktur der ursprünglichen Formen bleibt erhalten, doch durch einen Prozess von Assemblage, Agglomeration und Juxtaposition verbinden sie sich zu etwas Neuem.
„Parts Unknown“ wurde durch die Schichtung von kleinen Strichen hergestellt. Als Erforschung einer unbekannten Landschaft mit noch offener Topografie versucht es eine winzige Kosmografie zu entwerfen. Es wird zur Metapher für die mal idyllische, mal öde, unheimliche, bedrohliche oder verführerische Natur.
Die Zeichnung begann mit der Abbildung eines Flusssystems. Fernerkundungsdaten, die dann vervielfacht wurden, um sich über die Fläche zu verzweigen. Dann wurden Flussdeltas und -mündungen, Wolken und Gletscherformationen hinzugefügt, in einer Vielzahl von räumlichen Maßstäben zusammengeballte objektive Informationen. Details kamen zum Vorschein, topografische Karten mit sich unregelmäßig ausbreitenden Kreisen, die Berge und Hügel andeuteten. Kleine Seen und Teiche verteilten sich wie Flecken auf der Wand.
Wir bewegen uns ohne Unterbrechung kontinuierlich von einem Maßstab zum anderen. Das Ergebnis ist ziemlich unbestimmbar.
Die Zeichnung konzentriert sich auf die Schnittstelle zwischen den positiven und negativen Räumen oder auf die Beziehung zwischen Formen, die aneinandergrenzen. Die fertige Zeichnung stellt einen vor die Wahl zwischen drei (oder mehr?) Deutungen, von denen jede gelten kann:
1. Die dunklen Linien, die über die Wand verlaufen, sind ein Flusssystem mit dem umgebenden Raum, ein Luftbild der Topografie.
2. Die dunklen Linien sind Risse in der Wand, und man blickt auf oder „in“ etwas direkt vor einem, das hervorzubrechen oder zu explodieren droht.
3. Man blickt tief in eine nicht näher bestimmte Form von einem sich verzweigendem biologischen System, Neuronen, Blutgefäße, Venen und so weiter, wobei die dunklen Bereiche Wunden auf einem „Körper“ sind.
Diese Deutungen können nicht nebeneinander bestehen, können nicht gleichzeitig wahrgenommen werden, sie sind im Fluss, und das erzeugt ein Schwindelgefühl. Dieses Gefühl von Unbeständigkeit wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Zeichnung das einfache Verfahren nutzt, heterogene Elemente in üblicherweise inkompatiblen Referenzrahmen zu addieren, ohne zu versuchen, sie zu verbinden. Diese Stückchen und Teile können kombiniert werden, aber diese Kombination ist keine stabile Verbindung – und wird es niemals sein. Hybridisierung ist die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, und im besten Fall resultiert sie in einem Rätsel, das nicht entwirrt werden kann.