Forschungsthemen

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Bild 1: Werbeanzeige „Indigo rein BASF“ für den chinesischen Markt, ca. 1903. Quelle: BASF-Archiv.
Bild 2: Behälter für „Raffinierten Japankampfer“, schätzungsweise 1910–1940. Quelle: Powerhouse Collection, CC BY-NC-ND 4.0.
Bild 3: Eine Werbung für Düngemittel des größten agrochemischen Unternehmens in Palästina. Al-Iqtisadiyyat al-‘arabiyya, 15. Juli 1935. Quelle: Jrayed: Arabic Newspapers of Ottoman and Mandatory Palestine, Israelische Nationalbibliothek.

Nr 87
Vom Natürlichen zum Synthetischen? Die Geschichte der Entwicklung chemischer „Ersatzprodukte“ im 19. und 20. Jahrhundert neu erzählen

Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden weltweit immer mehr neue Materialien in Wissenschaftslabors entwickelt und in großen Mengen in Fabriken produziert. Chemieunternehmen, Marktbeteiligte und Forschungsinstitute priesen die Überlegenheit von Kunstfasern, künstlichen Ölen, künstlichem Kautschuk und anderen synthetischen Materialien gegenüber ihren natürlichen Pendants. Ihre Kosteneffizienz, einfache Herstellung und hohe Qualität machte sie aus Sicht der Beteiligten besonders attraktiv. Die Chemiker*innen wollten die Natur nicht nur imitieren, sondern sogar übertreffen, nicht länger auf die Gewinnung von Rohstoffen angewiesen sein, Stoffe entwickeln, die in der Natur nicht vorkamen, und letztlich ein größtmögliches Maß an Selbstversorgung gewährleisten.

In der Geschichte der Technik wird der Übergang vom Natürlichen zum Synthetischen häufig so beschrieben, als sei das eine lediglich durch das andere „ersetzt“ worden. Unsere Fallstudien zu synthetischen Farbstoffen und Düngemitteln sowie synthetischem Campher, die sich auf verschiedene zeitliche und räumliche Zusammenhänge beziehen, machen deutlich, welchen Einfluss öffentliche Diskurse, industrielle Verfahren, wirtschaftliche und politische Strukturen und weltweite Wissensnetzwerke auf diesen Übergang hatten und welche komplexen materiellen und technologischen Wandlungsprozesse damit verbunden waren.

Die Markteinführung von synthetischem Indigo in Deutschland

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelten deutsche Betriebe mit der Produktion synthetischer Teerfarbstoffe eine Alternative zur langen Tradition der Herstellung von Farbstoffen aus natürlichen Rohstoffen. Auch wenn diese ersten künstlichen Farbstoffe als Triumph der organischen Chemie und der industriellen Innovation gefeiert wurden, zweifelten viele Seiten an der „Echtheit“ dieser Erzeugnisse, und die Chemieunternehmen sahen sich gezwungen, ihre Vermarktungsstrategien anzupassen.

Als der deutsche Hersteller BASF im Jahre 1897 synthetisches Indigo auf den Markt brachte, behaupteten andere Unternehmen der Branche und Chemiker*innen, das Produkt sei nicht echt und lediglich eine veredelte Variante des Farbstoffs aus der Indigopflanze. Ihre Skepsis war darauf zurückzuführen, dass organische Chemiker*innen mehr als ein Jahrzehnt lang erfolglos versucht hatten, die Molekularstruktur von Indigo—als wichtige Voraussetzung für die Synthese des Stoffes—zu entschlüsseln. Darüber hinaus galten synthetische Farbstoffe bei Erzeugern von natürlichem Indigo, beispielsweise bei den schottischen Plantagenbesitzern in Bengalen, als qualitativ minderwertiger und „unrein“. Auch die Endnutzer*innen zeigten sich nicht überzeugt, beispielsweise Färber*innen in China, die kaum Unterschiede zwischen der Verarbeitung von synthetischem oder natürlichem Indigo feststellen konnten.

Um dieser öffentlichen Skepsis zu begegnen, verzichtete BASF in frühen Vermarktungskampagnen auf Begriffe wie „künstlich“ und bewarb das Produkt stattdessen mit unverfänglichen Beschreibungen wie „echte Farben“ oder „reines Indigo“, ohne es explizit als künstlich oder natürlich zu deklarieren. Das Chemieunternehmen versuchte, den Bedenken der einzelnen Gruppen mit sorgfältig gewählten Formulierungen und einer ungenauen Kategorisierung seiner Produkte zu begegnen. Diese frühen Kontroversen über synthetische Indigofarbstoffe stehen im Widerspruch zum Narrativ von einem einfachen „Ersatz“ und machen deutlich, wie die Verwendung natürlicher und synthetischer Stoffe sowohl durch den öffentlichen Diskurs als auch durch industrielle Kräfte beeinflusst wurde.

“Pure BASF Indigo Powder” label for the Chinese market, circa 1903. Source: BASF Archive.

01: Werbeanzeige „Indigo rein BASF“ für den chinesischen Markt, ca. 1903. Quelle: BASF-Archiv.

Taiwans Wälder, synthetischer Campher
und Kriegswirtschaft

Die Erfindung von Zelluloid im Jahre 1837 leitete eine neue Ära der industriellen Produktion von Alltagsgütern ein und führte zu einem weltweiten Anstieg der Nachfrage nach Campher als wesentlichem Inhaltsstoff. In Ostasien und insbesondere in Japan entwickelte sich die Herstellung von Campher, der durch Destillation aus dem Holz des Kampferbaums gewonnen wird, zu einem wichtigen Industriezweig. Nach der Kolonisierung Taiwans im Anschluss an den ersten Japanisch-Chinesischen Krieg im Jahre 1895 konnte Japan die riesigen Kampferbaum-Wälder des Landes erschließen und auf diese Weise seine Position als führende Campher-Exportnation weiter ausbauen. Zudem kurbelte der Aufstieg des Kinos, das auf Zelluloidfilme angewiesen war, die weltweite Nachfrage nach Campher zusätzlich an. Die Zelluloidindustrie der westlichen Welt betrachtete die Monopolstellung des japanischen Staates im Campher-Handel mit Missfallen und suchte verzweifelt nach Alternativen, um die von Japan gesteuerten Marktpreise für Campher zu umgehen.

Container for “Japanese Refined Camphor,” possibly 1910–1940. Source: Powerhouse Collection, CC BY-NC-ND 4.0.

02: Behälter für „Raffinierten Japankampfer“, schätzungsweise 1910–1940. Quelle: Powerhouse Collection, CC BY-NC-ND 4.0.

Im Jahre 1905 entwickelte das Berliner Pharmaunternehmen Schering einen Syntheseprozess, um natürlichen Campher aus Japan durch ein synthetisch erzeugtes Alternativprodukt zu ersetzen. Nachdem sich erste Versuche als kostspielig und ineffizient erwiesen hatten, fand das Unternehmen schließlich eine Lösung und konnte sich als Mitbewerber auf dem Weltmarkt für Campher behaupten. Allerdings hatte Deutschland im Ersten Weltkrieg aufgrund der Seeblockade und der gestörten Handelsbeziehungen keinen Zugang zu den besonderen Kiefernarten, deren Terpentinöl für die Synthese notwendig war. Somit konnte sich Schering erst nach dem Krieg durch massive Investitionen in die Herstellung von synthetischem Campher erneut auf dem Markt etablieren. In diesem Fall wurde der Übergang von natürlich zu synthetisch also nicht nur durch den Wunsch nach einem „Ersatzprodukt“, sondern historisch betrachtet auch durch soziopolitische, wirtschaftliche und diplomatische Faktoren bestimmt.

Einsatz von synthetischen Düngemitteln und organischen Düngern im Zitrusanbau in Palästina

Als in den 1930er-Jahren im britischen Mandatsgebiet Palästina synthetische Düngemittel in deutlich größeren Mengen als bisher zum Einsatz kamen, befand sich die dortige Zitrusindustrie im massiven Ausbau. In dieser Zeit nahm die Nachfrage nach organischen Düngemitteln deutlich zu, obwohl die Preise für synthetische Düngemittel nach dem Ersten Weltkrieg gesunken waren und das Angebot groß war. Denn die Zitrusanbaubetriebe waren überzeugt, dass sich organische Düngemittel besser für ihre Plantagen eigneten als synthetische Dünger, obwohl diese in der Zeit zwischen den Kriegen immer knapper geworden waren und einen enormen Preisanstieg erfahren hatten.

Wenn die Logik der „Kosteneffizienz“ allein die steigende Nachfrage nach organischen Düngemitteln nicht erklären kann, was dann? Jüdische Expert*innen für Zitrusfrüchte waren überzeugt, dass organische Düngemittel den Boden mit fehlenden Pflanzennährstoffen versorgten und gesund hielten. Die Menschen in Palästina beriefen sich auf länderübergreifende wissenschaftliche Erkenntnisse der internationalen Wissensgemeinschaft über Zitrusfrüchte, um den Einsatz organischer Düngemittel im jüdischen Zitrusfrüchteanbau zu rechtfertigen, während sie deren Verwendung in der ländlichen Erzeugung von Grundnahrungsmitteln in Palästina, wo sie bereits weit verbreitet waren, nicht für notwendig hielten. Um die Versorgungslücke mit pflanzlichen Nährstoffen zu füllen, wurde hier wiederum der Einsatz synthetischer Düngemittel vorgeschlagen, der nicht nur wirtschaftlich vorteilhafter war, sondern auch die Transformation der Agrarproduktion im ländlichen Palästina von einer „einfachen“ und extensiven hin zu einer „modernen“ und intensiven Bewirtschaftung nach jüdischem Vorbild unterstützen sollte. Demzufolge waren in Palästina länderübergreifende wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext eines lokalen kolonialen Diskurses über die Modernisierung der Landwirtschaft dafür verantwortlich, dass „organische“ durch „synthetische“ Düngemittel ersetzt wurden und das Natürliche neben dem Synthetischen fortbestehen konnte.

A fertilizer advertisement by the largest agrochemical company in Palestine. Al-Iqtisadiyyat al-‘arabiyya, July 15, 1935. Source: Jrayed: Arabic Newspapers of Ottoman and Mandatory Palestine, the National Library of Israel.

03: Eine Werbung für Düngemittel des größten agrochemischen Unternehmens in Palästina. Al-Iqtisadiyyat al-‘arabiyya, 15. Juli 1935. Quelle: Jrayed: Arabic Newspapers of Ottoman and Mandatory Palestine, Israelische Nationalbibliothek.

Ein kritischer Blick auf gängige Narrative zum
„Ersatz“ von natürlichen durch synthetische Stoffe

Die Beispiele für Indigofarbstoffe, Campher und Düngemittel zeigen, dass die Entwicklung synthetischer Alternativen für natürliche Stoffe mit komplexen Prozessen verbunden war, die in einigen Fällen sogar mehrere Jahrzehnte in Anspruch nahmen, und es dabei nicht nur darum ging, eine veraltete durch eine überlegene Technologie zu ersetzen. Der Übergang von natürlichen zu synthetischen Stoffen wurde von zahlreichen Faktoren bestimmt—darunter Zweifel der Öffentlichkeit an ihrer Echtheit, Marketingstrategien der Unternehmen, politische und wirtschaftliche Einflüsse und Diskurse zur Modernisierung der Wissenschaft. Diese komplexen Wechselwirkungen sind sowohl aus aktueller als auch aus historischer Sicht von Bedeutung, denn es ist möglich, dass Materialien aufgrund von Krisen wie dem Klimawandel und Pandemien anders verwendet und wahrgenommen werden. Es bedarf daher einer gründlichen Auseinandersetzung mit den subtilen sozialen Faktoren eines Fortschritts in der Materialentwicklung, um auf künftige gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können.