Ein großangelegtes transatlantisches Projekt trägt der Notwendigkeit Rechnung, konkrete Quellen und Orte der Transformation zu erschließen. In einer Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt sowie einer Vielzahl US-amerikanischer Partner aus Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft beschäftigt sich der Forschungsbereich Knowledge in and of the Anthropocene des MPIWG über ein Jahr hinweg intensiv mit dem Gebiet des Mississippi River. In einer Kombination aus feldorientierten Forschungsprojekten, öffentlichen Foren, Bildungsveranstaltungen und Online-Angeboten wird so eine konkrete Zone langfristiger Mensch-Umwelt-Interaktionen untersucht, dessen Wandel sich in jüngster Zeit dramatisch beschleunigt hat.
Das Einzugsgebiet des Mississippi umfasst nahezu 40 Prozent der Landmasse Nordamerikas. Sein heutiger Verlauf ist ein Produkt des Wasserbaus des 20. Jahrhunderts und stark auf seine Funktion als Transportkorridor für Industrie- und Landwirtschaftsprodukte ausgerichtet. Bereits in historischer Zeit durch viele ethnische und soziale Konflikte geprägt, droht dieses fragile hydrotechnisch-soziale System im 21. Jahrhundert aufgrund von Klimawandel und den damit einhergehenden Niederschlagsextremen zunehmend instabil zu werden. Rekordflutereignisse und anhaltende Dürre, das Aufstauen für den Schutz der Küste notwendiger Sedimente, aber auch der Verlust der biologischen Vielfalt, Landverödung, petrochemische Verunreinigungen und andere Umweltbelastungen führen zu einem zunehmenden Druck auf die Ökosysteme und bieten Konfliktstoff sozialer und ökologischer Ungerechtigkeit. Der Mississippi ist ein Musterbeispiel, um das Anthropozän in situ zu begreifen. Er konkretisiert die lokalen Veränderungsdynamiken im Anthropozän und liefert praktische Ansätze zu einer Erforschung von vorhandenen Ursachen, Wissenssystemen und den daraus erwachsenden Handlungsmöglichkeiten.
Den Mississippi transdisziplinär erforschen
In dem Projekt befassen sich fünf Teams aus lokalen Wissenschaftlern, Künstlern, Experten und Aktivisten mit ausgewählten Regionen entlang des Flusses, um die materiellen und historischen Bedingungen des ortsspezifischen Wandels zu untersuchen. Im Austausch mit diesen „Anthropozän-Feldstationen“ führt das parallel laufende Programm „Anthropozän-Schule“ kleinere Lehrveranstaltungen durch, die sowohl online als auch vor Ort stattfinden. Im Herbst 2019 wird dann eine Gruppe von Studierenden und Forschenden größtenteils per Kanu eine „Anthropozän-Flussreise“ vom Quellgebiet bis zum Golf von Mexiko unternehmen und dabei die Erkenntnisse aus den Feldstationen sammeln und öffentlich zugänglich machen. Höhepunkt dieser Reise ist ein einwöchiger „Anthropozän-Campus“ in New Orleans, bei dem die Forschungsarbeiten und -methoden der Feldstationen auf die speziellen Bedingungen im Mississippi-Delta angewendet und ihr globaler Zusammenhang deutlich gemacht wird. Während all dessen werden die Ergebnisse auf einer speziell entworfenen Online-Plattform vorgestellt und öffentlich diskutierbar sein.
Im American Bottom
Bereits im März 2019 reisten rund 60 Projektmitglieder nach St. Louis, Missouri, um eine der Feldstationen im Herzen Amerikas näher kennenzulernen. Geprägt von der Deindustrialisierung der letzten Jahrzehnte zählt St. Louis heute zu einem der wirtschaftlich und kulturell abgehängten Städte Nordamerikas. Gegenüber der Stadt, östlich des Mississippis, erstreckt sich der American Bottom, eine weite Überschwemmungsebene die, in den Worten der Landschaftsarchitekten und Künstler Jesse Vogler und Matthew Fluharty, einen einzigartigen „Ort der sozialen und räumlichen Systeme indigener Besiedlung, der industriellen Expansion des 19., der infrastrukturellen Konsolidierung des 20. und des ökologischen Prekariats des 21. Jahrhunderts“ darstellt.
Während des Aufenthalts in St. Louis fanden Workshops, Feld-Exkursionen und öffentliche Veranstaltungen statt. Darunter auch ein Feld-Campus mit Kim Fortun und Scott Knowles. Der örtliche Dokumentarfilmer Tony West führte eine Gruppe von Teilnehmern zum Standort Weldon Spring, einem unbeabsichtigten Denkmal des Anthropozäns. Während des Manhattan-Projekts im Zweiten Weltkrieg wurden in den nahe gelegenen Mallinckrodt-Chemiewerken Uran im industriellen Maßstab aufbereitet. Die Hinterlassenschaft dieser im Kalten Krieg weiter fortgesetzten Produktion besteht nunmehr aus einem 23 Meter hohen Grabhügel verstrahlten Materials und Bodens, der sich markant aus dem Mississippi-Niederungsgebiet erhebt und Jahrtausende überdauern soll.
Ein weiterer Ortsbesuch fand in Wood River statt. Östlich des Zusammenflusses mit dem Missouri gelegen wurde diese kleine Siedlung 1917 zum Standort einer Royal Dutch Shell-Raffinerie erkoren. Er beherbergt heute eine riesige Anlage, eingebunden in ein kontinentales Pipelinenetz, dass vor allem mit Rohbitumen aus Kanada und Rohöl aus dem Golf von Mexiko versorgt wird. Täglich werden daraus 165.000 Barrel Benzin und 90.000 Barrel Kerosin produziert, die dann über den Mississippi verschifft und letztlich weltweit verbrannt werden. Wood River ist ein Beispiel wie die „Große Beschleunigung“ der Nachkriegszeit in einer geschichtlich einzigartigen Mobilisierung von Materie, Energie und Biota der gesamten Erdoberfläche eine Topologie aufzwang, die Orte in Knoten eines weltweiten Rohstoffnetzwerks verwandelt. Ein Mapping-Workshop half, diese und weitere räumliche Zusammenhänge kenntlich zu machen.
Weiter südlich befinden sich die Überreste der Cahokia Mounds, einer der archäologisch wichtigsten Stätten Nordamerikas. Ein öffentliches Symposium bot die Gelegenheit, frühe Landnutzungsprozesse und den generellen Einfluss des Menschen auf die lokale Ökologie vor der Kolonialisierung durch europäische Siedler zu erörtern. Forscher des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und Archäologen der Washington University in St. Louis diskutierten Formen der Artenmigration, Saatgutausbreitung und Domestizierung im Großraum des Mississippi.
Eine anschließende Wanderung führte die Gruppe vorbei an altlastenkontaminierten Deponien nach Granite City. Das hier ansässige Stahlwerk wurde erst kürzlich im Zuge der antiglobalistischen Industriezölle der Trump-Regierung wiedereröffnet und bot die eindrückliche Kulisse für eine Gemeinschaftsinitiative von Künstlern und Designern, welche die leeren Straßen und Häuser in eine landschaftskundliche Galerie verwandelte.
Die fraktale Struktur des Anthropozäns
Besuche an „dichten“ Anthropozän-Orten wie St. Louis und seiner Umgebung zeigen, dass vieles von dem, was wir als global betrachten, tief mit örtlichen Gegebenheiten verwoben ist. Das Lokale und das Planetarische befinden sich in ständiger Rückkopplung miteinander. Durch die Verknüpfung verschiedener Perspektiven darauf, wie Wissen produziert wird, entsteht ein Verständnis für die vielfach gebrochene Natur des Anthropozäns, für die Verbindungen verschiedener Phänomene. Dadurch entsteht ein gesellschaftlich engagierter Wissensbegriff, der notwendig ist, um in Zeiten großer Umbrüche nicht nur zu verstehen sondern auch angemessen handeln zu können.