Die Geschichte des Internationalen Geophysikalischen Jahres (IGJ) mit seinem System von Welt-Datenzentren veranschaulicht die Art und Weise, wie der Umgang mit Daten jenseits der Militarisierung der Forschung als unmittelbare Folge des Konfliktes sowohl von der politischen Ökonomie des Kalten Krieges geprägt war, als diese auch umgekehrt bestimmte. Das IGJ war eines der größten internationalen wissenschaftlichen Unternehmungen des 20. Jahrhunderts, 67 Länder und Tausende von Wissenschaftlern nahmen an seinem ehrgeizigen Datensammlungsprogramm teil. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ermöglichte das IGJ einen beispiellosen weltweiten Datenverkehr zu verschiedenen Aspekten der physischen Umwelt. Alle dreizehn IGJ-Forschungsgebiete – Polarlicht und Nachthimmelslicht, kosmische Strahlung, Erdmagnetismus, Gletscherkunde, Schwerkraft, Ionosphärenphysik, Längen- und Breitengrade, Meteorologie, radioaktive Strahlung, Ozeanografie, Seismologie, Sonnenaktivität und Untersuchung der oberen Atmosphäre mithilfe von Raketen und Satelliten – hatten eine unmittelbare militärische Bedeutung. Dennoch konnten die Daten frei ausgetauscht werden, sogar zwischen den Hauptgegnern des Kalten Krieges, den Vereinigten Staaten und der UdSSR. Was aber ermöglichte einen solchen Austausch? Welchen Wert hatten die Daten für die IGJ-Planer? Und warum wurden in Anbetracht ihrer entscheidenden Bedeutung die meisten der IGJ-Daten zu der Zeit nicht genutzt und sind viele von ihnen bis heute in den Archiven ,begraben‘? Dies sind einige der zentralen Fragen dieses Projekts.
Die Studie geht von der Idee eines Zusammenspiels der politischen und der wissenschaftlich-technologischen Systeme aus. Auf der Grundlage von vorliegenden Studien zur Wissenschaft im Kalten Krieg und von Nachforschungen in Archiven untersucht sie wissenschaftliche Praktiken während der Zeit des Kalten Krieges anhand der ,Datenachse‘. Das IGJ, das vor dem Hintergrund der nuklearen Geheimhaltung konzipiert worden war, die durch die politischen Spannungen des Kalten Krieges noch verstärkt wurde, ermöglichte die Entstehung eines klaren Datenregimes in der Geophysik – ein Regime, das Daten in eine Form von Währung verwandelte, die von den politischen Akteuren des Kalten Krieges gehandelt und getauscht wurde. Um dieses Datenregime zu untersuchen, folgt das Projekt vier Themensträngen:
(1) Geheimhaltung und Datenzugang im Kalten Krieg.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg machten zwei Postulate – die mit dem Aufkommen von Nuklearwaffen entstandene strategische Bedeutung von geophysikalischen Daten und das nukleare Geheimhaltungsregime, das infolgedessen in der Geophysik entstand – geophysikalische Daten zu einem Terrain sowohl des politischen Kampfes als auch der internationalen Kooperation. Während das Militär sich des IGJ bediente, um Zugang zu entscheidenden geophysikalischen Daten zu erhalten, nutzten Wissenschaftler es, um die Grenze zwischen öffentlich zugänglichen und für geheim erklärten Daten neu auszuhandeln. Die IGJ-Planer verfolgten in ihren Verhandlungen darüber, ,was mit dem Feind geteilt werden kann‘, eine spezielle Strategie, indem sie die Unterscheidung zwischen „Grunddaten“ – den elementaren Informationseinheiten, die ohne Kontext wertlos waren und daher mit einem Feind ausgetauscht werden konnten – und „Endprodukten“ wie Berichten, die als geheim eingestuft werden konnten, einführten. Diese Unterscheidung beruhte auf einer feinen, ,atomistischen‘ Epistemologie, erlaubte es den Wissenschaftlern jedoch, für internationale Vereinbarungen zum Datenaustausch in der Geophysik einzutreten. Was zu den „öffentlich zugänglichen Daten“ zählte, die während des Programms ausgetauscht werden konnten, war in den Richtlinien zum Datenaustausch des IGJ festgelegt. Dennoch wurde der tatsächliche Austausch durch eine subtilere Politik geregelt, die nicht in eine formale Sammlung von Regeln und Verordnungen überführt wurde. In der Praxis des IGJ-Datenaustauschs wurde der Wert von Daten eher durch die politische Ökonomie des Kalten Kriegs bestimmt als durch formelle internationale Vereinbarungen.
(2) Die politische Ökonomie des Datenaustauschs im Kalten Krieg.
In den IGJ-Richtlinien wurde implizit angenommen, dass einmal öffentlich zugänglich gemachte Daten automatisch in die Welt-Datenzentren (WDCs) fließen würden. Die Geophysiker bezogen sich häufig auf „Datenströme“, die in die Datenzentren hinein und aus ihnen heraus flössen. Tatsächlich strömten die IGJ-Daten jedoch nicht problemlos und ohne Stockung dahin wie eine Flüssigkeit. Damit sie flossen und nicht nur tröpfelten (oder gar zum Stillstand kamen), war ständige Verhandlung und Überwachung notwendig. Die Asymmetrie des Austauschs war die Pumpe, die die Daten zum „Fließen“ brachte. Die für das sowjetische WDC zuständigen Geophysiker ließen keine Gelegenheit aus, ihre Schirmherren, die das IGJ ideell oder finanziell unterstützten, darauf hinzuweisen, indem sie behaupteten, die Daten seien asymmetrisch zum Vorteil der Sowjetunion ausgetauscht worden. Auf beiden Seiten der politischen Trennlinie verfolgten die WDCs den Datenfluss, indem sie die Zahl der „Datenstücke“, die ihre Zentren erhielten und die sie mit den anderen tauschten, zählten und überwachten. Aufgrund dieser Praktiken wurden Daten zunehmend als eine Wechselwährung angesehen, die sich in der Hand der beiden hauptsächlichen „Hüter“ der globalen geophysikalischen Informationen befand, der Vereinigten Staaten und der UdSSR. Diese Politisierung des Datenaustauschs musste unvorhergesehene Folgen für die Datenzentren und ihren Umgang mit Daten haben.
(3) Datensammlung: die analoge Datenschwemme.
Nachdem Daten zur Währung geworden waren, war es das Hauptziel der WDCs, große Mengen von Daten zu sammeln, die zumeist analog erfasst wurden. Ende der 1960er Jahre, als ihr Datenbestand immer noch wuchs, bildeten die WDCs ein gewaltiges dezentrales „Archiv von Zahlenmaterial, Kurven, Karten und Bildern“, wie der Direktor des amerikanischen WDCs es nannte. In den 1960er Jahren stellten die WDCs das größte Reservoir von Umweltdaten dar, das es in der Geophysik jemals gab. Mit dem zunehmenden Umweltbewusstsein wurden die IGJ-Datenzentren mehr und mehr als Datenschatz angesehen, der das Potenzial hatte, Fragen jenseits der unmittelbar geophysikalischen Probleme zu beantworten. Doch es stellte sich heraus, dass die Schlüssel zu dieser Schatztruhe fehlten – aus den riesigen Massen angesammelter Daten nützliche Informationen zu ziehen war eine einschüchternde Aufgabe. Wegen der gewaltigen Fülle an Daten und ihrer Mannigfaltigkeit kamen Computer für die WDCs zu spät. Nach dem IGJ stellten sich sowohl amerikanische als auch sowjetische Geophysiker der technologischen Herausforderung, die gesammelten Daten zu verarbeiten und nutzbar zu machen. Ihre technischen Lösungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs waren allerdings unterschiedlich.
(4) Die Technologie von Datenarchiven im Kalten Krieg.
Während die amerikanischen Geophysiker vor allem Wege suchten, die analogen Daten in ein maschinenlesbares Format zu konvertieren, interessierten sich ihre sowjetischen Gegenspieler auch für die Möglichkeiten der Datenverarbeitung und Informationswiedergewinnung mithilfe von Mikrofilmtechnologien. In den 1960er Jahren war Mikrofilm eine komplizierte Technik, die es Nutzern erlaubte, analoge Daten zu speichern, zu durchsuchen und zu analysieren, ohne sie in ein digitales Format umzuwandeln. Anders als Computer mit ihren engen Verbindungen zum Militär waren Technologien auf Mikrofilmbasis vergleichsweise gut verfügbar. Sie wurden von vielen Ländern hergestellt – einschließlich dem Sowjetsatelliten Ostdeutschland, das sowjetische Technikunternehmen und Erfinder mit einer Vielzahl an Modellen zum Nach- und Umbau versorgte – und boten für den Zweck der Verarbeitung von geophysikalischen Daten eine vielversprechende Alternative zu Computern. Die in dieser Studie vorgenommene Analyse erinnert daran, dass Daten nicht einfach eindeutige Belege für Ereignisse in der Welt sind, sondern von Machtverhältnissen abhängen. Während des IGJs wurde Datenaustausch zu einem sanften Machtinstrument der IGJ-Planer, die damit die geopolitischen Rivalitäten im Kalten Krieg auf der kleinen Bühne der Datenkämpfe reproduzierten. Vor allem macht das Projekt auf unvorhergesehene Folgen der politischen Datenökonomie während des Kalten Krieges aufmerksam (die häufig nachträglich überrationalisiert werden). Die strategische Bedeutung geophysikalischer Daten wurde nicht unmittelbar und zwangsläufig in die Herstellung von „Datenprodukten“ umgemünzt. In den 1960er Jahren wurden die WDCs zu einem Überbleibsel des Zeitalters analoger Daten mit seinen Mikrofilmtechnologien. Damit wirft die Untersuchung Licht auf die komplexe Verflechtung des Politischen mit dem Technologischen in der Geschichte des Umgangs mit Daten, die „Big Data“ – die Sammlung und Verarbeitung großer Datenmengen – während des Kalten Krieges in Schwung brachte.