Es gibt heute Mediziner, die versuchen über genetische Veränderungen die Wirksamkeit von Medikamenten besser vorhersagen zu können, forensische Wissenschaftler, die Gesichtsmorphologien über Spuren genetischen Materials konstruieren und Privatunternehmen, die Tests zu genetischer Herkunft gegen einen Wangenabstrich anbieten. Viele Fragen und Methoden zeitgenössischer Humangenetik bildeten sich bereits zwischen 1920 und 1960 heraus, als Blutgruppen die einzigen menschlichen Merkmale mit eindeutig ‚Mendelschem‘ Erbgang waren. Das aktuelle Projekt blickt auf diese Jahrzehnte zurück und stellt dar, wie Verfahren und Institutionen der Blutgruppenforschung die Humangenetik als zentrales Feld für Fragen über Rasse, geografische Abstammung und Vererbung von Krankheiten begründeten (Abbildung 1).
Zu Teilen ist dies auch die Geschichte der Personalplanung innerhalb moderner Verwaltungseinrichtungen im Gesundheitswesen, insbesondere des Blutspendendienstes. In Großbritannien wurde der erste landesweite Transfusionsdienst unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet. Er bestand aus einem Netzwerk von Blutdepots, in denen Freiwillige in großer Zahl getestet wurden sowie Abnahme, Konservierung und Mobilisierung des Blutes organisiert wurde. Im Zentrum dieses Netzwerks stand ein Labor namens Galton Serum Unit, dessen Mitarbeiter praktische Aufgaben für die Depots übernahmen und im Gegenzug Proben und Spenderdaten zur genetischen Erforschung erhielten (Abbildung 2). Diese Tauschpraxis wurde nach Ende des Krieges weiter ausgebaut und zwei neue Labore am Lister Institute in London gegründet, die von den ehemaligen Mitarbeitern der Galton Serum Unit Arthur Mourant und Robert Race geleitet wurden. Deren Labore wurden zu internationalen Fachzentren für Blutgruppenuntersuchung, da sie von der neu gegründeten Weltgesundheitsorganisation (WHO) kooptiert wurden, um standardisierte Blutgruppentestseren weltweit zu vertreiben. Wie bereits während des Krieges erlangten Mourant und Race Blutproben und Gruppierungsergebnisse von Transfusionsspezialisten, Ärzten, Missionaren, Genetikern und Anthropologen und benutzten diese, um den genetische Erbgang neuer Blutgruppen zu untersuchen, die Abscheidung komplexer Krankheitskennzeichen zu verfolgen und eine Geografie genetischer Vielfalt zu entwerfen. Kurz gesagt wurde es durch die großangelegte administrative Personalerfassung im öffentlichen Gesundheitssektor möglich, eine auf der statistischen Analyse umfangreicher Daten basierende Humangenetik zu formulieren. Diese Geschichte ist dabei Teil einer größeren Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der nach dem Krieg verstärkten Untersuchung der Organisation menschlicher Bevölkerungen. ‚Population Studies‘ verbinden die Erforschung menschlicher Vererbung mit der allgemeinen Politik der Nachkriegswelt, die tief greifend von den Spannungen des Kalten Krieges und einem neuen Internationalismus geprägt war; ebenfalls Thema der in Kürze erscheinenden Sonderausgabe Heredity and the study of human populations after 1945, herausgegeben von Jenny Bangham und Soraya de Chadarevian.
Das Projekt untersucht auch, wie Blutgruppen sowohl Disziplinen übergreifend, als auch für nationale und internationale politische Ziele vereinnahmt wurden. Während der frühen 1930er Jahre wurden Blutgruppen als Merkmale eines unvoreingenommenen Verständnisses menschlicher Erbgänge und als überzeugendstes Gegenargument zu Vorstellungen rassischer Reinheit angesehen. Nach dem Krieg wurde diese Rhetorik auf internationaler Bühne in einer Kampagne der UNESCO wieder aufgegriffen, die versuchte, rassistische Vorurteile durch die Verbreitung von ‚wissenschaftlichen Fakten‘ zu unterlaufen. Das Bild am Anfang der Seite ist aus dem UNESCO Bilderbuch What is Race?, das entwickelt wurde, um „auf populäre Weise“ darzustellen, dass Genetik neutrales, wissenschaftliches und universelles Wissen über Rasse und Abstammung hervorbringen kann; eine Idee, die auch heute noch überzeugend wirkt.
Daneben zeichnet das Projekt die Arbeit des Sammelns nach: von der Entscheidung über die zu untersuchenden Bevölkerungen, über die Auswahl der Körper für die Probenentnahme, bis zum Austausch darüber, welches Blut und welche Blutgruppen als Laborressourcen herangezogen werden sollen (Abbildung 3). Das Projekt folgt zudem der ‚Schreibarbeit‘, durch die Ergebnisse organisiert und in zuverlässige genetische Daten überführt wurden. Geprägt von ihren historischen Narrativen, von Vorstellungen von Rasse und nationaler Identität sowie von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen haben diese Methoden des Sammelns, des Beschreibens und der Analyse Blutgruppen zum herausragenden Gegenstand genetischer Forschung und wichtigen Hinweisgeber auf biologische Differenz gemacht.