Zeigt die Entwicklung unterschiedlicher technologischer Objekte ähnliche Muster? Lassen sich solche Muster gegebenenfalls auch in anderen Epochen identifizieren? Welche Faktoren sind zur Erklärung von technologischen Entwicklungsprozessen heranzuziehen? Welche Rolle spielt Wissen bei der Entwicklung technologischer Objekte und welchen Einfluss nehmen diese Entwicklungen ihrerseits auf das Wissen? Mit solch allgemeineren Fragestellungen im Hintergrund widmet sich die Topoi Nachwuchsgruppe Between Knowledge and Innovation der Erforschung der ungleicharmigen Waage.
Waagen und Gewichte sind erstmals um etwa 3000 vor Christus in Ägypten belegt. Die Idee des Wiegens breitet sich rasch aus und verändert die bronzezeitliche Welt. Die Waagen entwickeln sich weiter, aber ihr grundlegendes Prinzip bleibt dasselbe. Das Gewicht, oder genauer die Masse eines zu wägenden Guts an einem Arm der Waage, wird durch das identische Gewicht eines oder mehrerer Standardgewichte am anderen, gleichlangen Arm ausgeglichen, das heißt wörtlich im Gleichgewicht gehalten. Man spricht von der gleicharmigen Balken- oder Hebelwaage.
Erst 2500 Jahre später taucht ein neuer, vollkommen andersartiger Typ von Hebelwaage auf. Im Falle dieser so genannten ungleicharmigen Waage werden Güter verschiedenen Gewichts nicht mehr mit ihnen entsprechenden, einem bestimmten Gewichtsystems zugeordneten Standardgewichten aufgewogen, vielmehr kommt nur noch ein Gegengewicht zum Einsatz. Ausgleich, das heißt eine horizontale Lage des Waagebalkens, erreicht man bei diesem Typ Waage durch das Variieren der Armlängen. Gewichtsänderungen werden hier also nicht durch entsprechende Gewichts- sondern vielmehr durch Längenänderungen kompensiert.
Für den modernen Betrachter ist dies nicht weiter verwunderlich. Die Funktion der ungleicharmigen Waage lässt sich durch das Hebelgesetz beschreiben. Gleichgewicht herrscht genau dann, wenn die Hebelarme im umgekehrten Verhältnis zu den wirkenden Gewichtskräften stehen. Müssen wir also annehmen, dass erst die Einsicht in das Hebelgesetz den Bau solcher Waagen erlaubte? Forschungen der Abteilung I des MPIWG haben gezeigt, dass es sich wohl genau umgekehrt verhält. Die erste Erwähnung einer ungleicharmigen Waage finden wir in einer 421 vor Christus verfassten Komödie des Atheners Aristophanes. Die erste überlieferte Formulierung des Hebelgesetztes stammt jedoch erst aus dem darauf folgenden Jahrhundert. Es spricht tatsächlich vieles dafür, dass erst das Vorhandensein ungleicharmiger Waagen, in denen das Hebelgesetz verkörpert ist, zu dessen Formulierung führte.
Ungleicharmige Waagen, die praktischen Erfahrungen mit ihnen und das hieraus hervorgegangene Wissen stehen somit Pate beim Ursprung einer Wissenschaft der Mechanik. Auch über die nächsten 2000 Jahre bleibt die Entwicklung des theoretischen Wissens der Mechanik eng an Fragen geknüpft, die mit der ungleicharmigen Waage im Zusammenhang stehen. Weitgehend unabhängig vom theoretischen Wissen entwickeln sich aber auch die Waagen und das an sie gekoppelte praktische Wissen weiter. So haben beispielsweise die Waagen, welche im 8. Jahrhundert über Byzanz die Islamische Welt erreichen und dort Gegenstand einer Gattung von Texten werden, in denen sich theoretisches und praktisches Wissen auf neuartige Weise verbindet, nur noch wenig mit der Art von Waage zu tun, wie sie bei Aristophanes erwähnt wird.
Ungeachtet ihrer Bedeutung für den Ursprung einer Wissenschaft der Mechanik und deren späterer Ausformung sind die Geschichte der ungleicharmigen Waage sowie des mit ihr verwobenen technologisch-praktischen Wissens in Antike und Spätantike nur ungenügend erforscht. Dies ist um so bemerkenswerter, als es sich bei der ungleicharmigen Waage mutmaßlich um das am weitesten verbreitete und am häufigsten verwendete mechanische Präzisionsgerät der Antike und Spätantike handelt. Dementsprechend hoch ist die Zahl der erhaltenen Waagen. Gerade die große Zahl der überlieferten und verhältnismäßig gut dokumentierten Artefakte, die durch textliche und ikonographische Quellen ergänzt werden, macht die ungleicharmige Waage zu einem geeigneten Modellfall, an dem paradigmatisch Ursprung, Dynamik und Verbreitung technologischer Innovationen sowie deren kulturelle Bedingungen und Auswirkungen in Antike und Spätanike untersucht werden können.
Am Beispiele der ungleicharmigen Waagen soll im Rahmen des Projekts ein Innovationsprozess einerseits durch Untersuchung seines erhaltenen materiellen Zeugnisses modelliert und andererseits durch Rekonstruktion seiner historischen Rahmenbedingungen interpretiert werden. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei der Rekonstruktion des praktischen Wissens, welches aus Erfahrungen im Umgang mit diesem Instrument hervorging und bei der Herstellung dieser Waagen zur Anwendung kam. Wie war diese Wissen beschaffen, wer waren seine Träger, wie wurde es tradiert, wie hat es sich im betrachteten Zeitraum entwickelt? Erst wenn diese und ähnliche Fragen beantwortet werden können, wird es möglich sein, die Entwicklung der Mechanik als Resultat eines komplexen Zusammenspiels von theoretischem und praktischem Wissen zu begreifen.
Es ist davon auszugehen, dass die Entwicklung der ungleicharmigen Waage auch für andere Innovationsprozesse im Bereich der antiken- und spätantiken Technologie typisch ist. Damit weisen die Forschungsfragen des Projekts weit über ein historisches Verständnis der Entwicklung der ungleicharmigen Waage und des mit ihr verknüpften Wissens hinaus. Die Anwendung von Modellen und Konzepten aus der aktuellen Innovationsforschung auf Antike und Spätantike, wie sie das Projekt anstrebt, soll nicht zuletzt in einem tieferen Verständnis von Prozessen der Technologieentwicklung in dieser Epoche münden und gleichzeitig einen Beitrag zur Entwicklung einer allgemeinen Theorie der Innovation leisten.