Schaffen Künstler auch Wissen? Die Diskussionen, die gerade über die Bedeutung der „künstlerischen Forschung“ geführt werden, und die unterschiedlichen Meinungen an Universitäten und Kunstakademien über einen „Doctorate in the Arts“, einen Doktortitel in der Kunst, zeigen, dass diese Frage heute noch genauso aktuell ist wie in der Frühen Neuzeit. In seiner Gedichtanthologie Den Hof en Boomgaerd der Poesien (1565) ließ der Maler und Dichter Lucas de Heere aus Gent keinen Zweifel daran, dass ihm sein Wissen Ehre und Tugend brachte: „Auch wenn ich nicht die Reichtümer von Krösus habe / so muss ich (wage ich) etwas (zu) sagen. / Aus dem Wissen nämlich, welches äußerst geschätzt / strömen Reichtümer und es wird ihm Ehre erwiesen / es adelt mich, das kann ich bezeugen.” Aber welches Wissen haben Künstler der Frühen Neuzeit wie De Heere als Teil ihres Schaffens betrachtet? Eine neue Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts geht der Frage nach, wie Künstler der frühen Moderne Wissen entdeckt, für sich genutzt, weiter entwickelt, kategorisiert und übermittelt haben.
Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Künstlerwissen im frühneuzeitlichen Europa“ untersucht die Transmission und Zirkulation des Wissen von Künstlern in der Frühen Neuzeit. Wissen wurde nicht nur im Gespräch zwischen Meister und Schüler ausgetauscht, sondern anhand verschiedener materieller Objekte in der Künstlerwerkstatt veranschaulicht. Kenntnisse über die Materialien der Künstler sowie ihrer Herstellung und Verarbeitung wurden auch in Rezepten gesammelt und weitergegeben. Neben dem einflussreichen Lehrbuch von Cennino Cennini Il libro dell’arte gibt es hunderte von Anleitungen, die oft kaum bekannt sind. Welche dieser Rezepte waren wichtig, wenn man in einer Künstlerwerkstatt sein Handwerk lernte? Welche Rezepte drangen nach außen und wurden außerhalb der Werkstatt unter Physikern, liefhebbers und Mäzenen in Umlauf gebracht? Künstler gaben ihr Wissen durch Bücher, Zeichnungen und Objekte weiter, die sie in Arbeitssammlungen zusammentrugen, und dies war mit einer Intellektualisierung des Berufsstandes von Künstlern verknüpft. Dieses Projekt erforscht, wie Künstler die Bücher in ihren Bibliotheken gelesen, und wie Maler, von Mantegna bis Rembrandt, Antiquitäten, Apparate und Materialien gesammelt und genutzt haben.
Die Kunsttheoretiker der Frühen Neuzeit waren sich darüber einig, dass Künstler über Wissen verfügten, aber sie stritten darüber, um welche Art von Wissen es sich handelte. Tatsächlich führten die Kategorien, in die das Wissen eingeteilt wurde, oft zu Diskussionen, etwa was als künstlerische Exzellenz galt. So hat der Florentiner Giorgio Vasari brillant (fälschlicherweise) angenommen, dass der flämische Maler Jan Van Eyck die Ölfarbe erfunden hatte. Vasari hoffte, er könne die niederländische Kunst auf das niedrige Niveau der techne reduzieren, wenn er ihr diese Erfindung zuordnete, da für ihn die florentinische Kunst überlegen war. Der flämische Kunsttheoretiker Domenicus Lampsonius widersetzte sich dieser Zweiteilung von Geist und Handwerk und argumentierte, dass die niederländischen Künstler „klug in ihrem Handwerk“ seien.
Als Johannes van der Straet in seiner florentinischen Reihe der neuen Erfindungen, der Nova Reperta (1584), die Werkstatt von Jan Van Eyck idealisierte, zeigte er den gesamten Entstehungsprozess eines Bildes, von den Rohmaterialien bis zum fertigen Produkt, vom Mahlen der Pigmente bis zum Auftragen der Farbe auf die Tafel. Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Künstlerwissen im frühneuzeitlichen Europa“ verfolgt einen ganz ähnlichen methodologischen Ansatz und beschäftigt sich hauptsächlich mit den Entstehungsprozessen von Gemälden und anderer visueller Beschreibungen als Prozessen. Bei der Entstehung aller Kunstwerke der Frühen Neuzeit in Europa stachen vor allem zwei Themen hervor: die Kenntnis der Rohstoffe und wie man diese handhabt. Die Maler teilten ihre Erfahrungen über Rohstoffe mit anderen Berufsständen, wie Apothekern, in deren Läden sie in Antwerpen und Venedig ihre Pigmente kauften, und Handwerksmeistern wie Glasmachern und Goldschmieden.
In der Mitte des 16. Jahrhunderts beschrieb Vasari, ebenso wie später Karel van Mander in seinen Schilder-boeck (1604), Van Eyck als „einen Mann mit großem Interesse an der Alchemie“, der in seinen Experimenten ein Bindemittel herstellte, mit dem man „starke Farben, die leuchten konnten ohne ein Firnis auftragen zu müssen und viel leichter zu mischen waren als Tempera“, gewinnen konnte. Den Maler als Alchemisten zu porträtieren ist nicht so abwegig, wie man meinen könnte, da beide Berufsstände handwerkliches Können und Materialien verbanden. Im frühen 17. Jahrhundert ging das alchemistische Interesse der Künstler in Antwerpen weit über die praktisch-chemischen Methoden hinaus, die notwendig waren, um Pigmente herzustellen. Rubens bezog sich auf die drei Prinzipien, tria prima, des Paracelsismus, Sulphur, Salz und Mercurius (als Grundelemente des Universums und der Menschheit), um die Dreieinigkeit der Kräfte in der Natur und das Göttliche im Menschen zu beweisen. Mit dieser These, die nicht so eigentümlich ist, wie sie erscheinen mag, war Rubens nicht allein: sein Meister, Otto Van Veen, tat es ihm in seinem rätselhaften Werk Physicae et theologicae Conclusiones (1621) gleich. Das Gewicht der spirituellen und kabbalistischen Elemente in Rubens’ Schriften über die Alchemie belegt den Ehrgeiz des Künstlers als pictor doctus angesehen zu werden. Das intellektuelle Leben des Künstlers verknüpfte sich zunehmend mit der Welt der Gelehrten und der Wissenschaft.
Zwischen 1350 und 1750 änderten sich die epistemischen Anforderungen an Künstler drastisch. Die Werkstatt des Künstlers verwandelte sich von einem Zentrum der handwerklichen Fähigkeiten in einen Ort, an dem das gesammelte Wissen ausgetauscht und Themen diskutiert wurden, die an Universitäten und Akademien gelehrt wurden. Schon in der frühen Renaissance machten sich vor allem die Künstler in Italien dafür stark, das studium der Malerei sei eine freie Kunst. Pomponius Gauricus behauptete, der ideale Bildhauer müsse sehr belesen und in Arithmetik, Musik und Geometrie bewandert sein. Die Liste von Lorenzo Ghiberti war noch ambitionierter und nahm Grammatik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Philosophie, Geschichte, Medizin, Anatomie, die Lehre der Perspektive und disegno als obligatorische Fächer für das Studium des Malers oder Bildhauers auf. Der Künstler identifizierte sich selbst als Student der freien Künste, als artista.
Die Künstler interessierten sich für die unterschiedlichsten Wissensgebiete, von der Anatomie des menschlichen Körpers bis hin zur Archäologie der klassischen Antike in Rom. Aber ein Gebiet nahm den Ehrenplatz ein: die Lehre der Perspektive. Die Fähigkeit des Künstlers, den dreidimensionalen Raum mit Hilfe der Geometrie überzeugend darzustellen, war eine kraftvolle Waffe im Kampf um die Anerkennung des Künstlerberufs als höherwertigem intellektuellen Stand. Obwohl sich die aktuelle Lehre der Perspektive seit Erwin Panofskys Die Perspektive als ‚symbolische Form‘ (1927) zur eigenen Disziplin entwickelt hat, war die Auseinandersetzung des Künstlers mit der perspectiva, der Wissenschaft der Optik, die schon in der Antike verwurzelt war, nicht auf die Geometrie der linearen Perspektive reduziert. Die Maler waren genauso an den Effekten des Lichts interessiert, wie es von verschiedenen Geweben, Oberflächen und Stoffen reflektiert beziehungsweise gebrochen wurde (oder die vier Elemente von Aristoteles in Anlehnung an die Trattato dell’arte della pittura von Giovanni Paolo Lomazzo). Dabei nimmt das Projekt das Werk von Alhazen, De aspectibus, als Ausgangspunkt und erforscht, wie Künstler aufgrund dieser Abhandlung, welche die Wissenschaft der Optik seit dem elften Jahrhundert maßgeblich beeinflusste, Optik wahrnahmen und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema einen neuen Wissensfundus über das Licht schaffen und praktisch umsetzen konnten. Wie diese optischen Erkenntnisse vom Künstler angewandt wurden, hing davon ab, welches Medium er wählte. Dies baut die Behauptung von Van Manders, Van Eyck konnte durch seine „Erfindung“ der Ölfarbe die Effekte von reflektiertem und gebrochenem Licht meisterhaft darstellen, zu einer umfassenderen These aus und untersucht, wie andere Berufsstände das optische Wissen nutzten, zum Beispiel Goldschmiede und Glasmaler.
Dieses Wissen blieb nicht in der Künstlerwerkstatt. Zum einen trugen Mäzene und Gelehrte, welche die Ateliers der Künstler besuchten, das Wissen persönlich in die Welt. Wenn wir verfolgen, wie das Wissen des Künstlers vermittelt wurde, erkennen wir zum anderen, dass dieses Wissen von den Werkstätten der Künstler in andere Gebiete wanderte, mit denen Wissenschaftshistoriker, Medizinhistoriker und Technologiehistoriker vertraut sind. Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Künstlerwissen im frühneuzeitlichen Europa“ schreibt eine epistemische Kunstgeschichte, die sich auf die Wege des Wissens und den Wissenstransfer innerhalb und außerhalb der Künstlerwerkstatt konzentriert. Hierfür ist die Einsicht maßgebend, dass die Grenzen von Kunst und Wissenschaft gerade in der Frühen Neuzeit wandelbar waren, indem die Beziehung zwischen Kunst und Wissen immer wieder neu definiert wurde. Kunst ist keine stabile, ahistorische Kategorie.
Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Künstlerwissen im frühneuzeitlichen Europa“ ist ein Bindeglied zwischen dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und dem Kunsthistorischen Institut an der Freien Universität Berlin. Diese Schnittstelle ist Teil einer Kooperation der Wissenschaftsgeschichte zwischen dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und den drei großen Universitäten der deutschen Hauptstadt, der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin. Weitere Kooperationspartner sind die Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom, das Centre Alexandre Koyré in Paris, das Museum Kunstpalast in Düsseldorf und das Institut für Kunstgeschichte in Bern.