Im Allgemeinen befasst sich die philosophische Epistemologie mit der Frage, was Wissen ist, ob wir es besitzen, und wie wir unsere – auch wissenschaftlichen – Wissensansprüche legitimieren können. Obwohl Epistemologie in diesem Sinn ein lebendiger Zweig der heutigen Philosophie ist, wird ihr universeller Anspruch oft kritisiert.
Insbesondere ist behauptet worden, dass Wissen immer in Kontexten und Bedingungen eingebettet ist (etwa in biologischen, sozialen, historischen, oder technischen), und dass Epistemologie es sich nicht leisten kann, diese Kontexte zu übersehen. Auch die „historische Epistemologie“, die insbesondere von Wissenschaftshistorikern vertreten wird, übt eine solche Kritik an der traditionellen Epistemologie. Inzwischen existieren verschiedene Versionen dieses Ansatzes, die unter Philosophen freilich bislang überwiegend unbeachtet geblieben sind. Uljana Feest (Philosophie, TU Berlin) und Thomas Sturm (damals MPIWG, Berlin, jetzt Philosophie an der Universitat Autònoma de Barcelona, Spanien) initiierten daher eine Konferenz am MPIWG im Juli 2008 mit dem Ziel, diese verschiedenen Versionen im Kreis führender Vertreter der Philosophie und der Wissenschaftsgeschichte zu klären und zu diskutieren. An der Konferenz nahmen außer den eingeladenenen Vortragenden, Kommentatoren und Diskutanten auch mehr als 120 Gäste aus Europa, Nordamerika und Asien teil, die in unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Physik, Geologie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Kunstgeschichte oder Philologie zu Hause sind.
Welche Varianten von historischer Epistemologie gibt es, und was sind ihre Vor- und Nachteile? Welche Beiträge kann die historische Epistemologie einerseits zu erkenntnistheoretischen Problemen liefern, und was nützt sie der Wissenschaftsgeschichte? Was sind ihre grundlegenden Annahmen und auf welcher Basis stehen diese Annahmen? Die Vorträge und Diskussionen nutzten als Hintergrund Studien über spezifische Themen, die die verschiedenen Varianten der historischen Epistemologie beispielhaft darstellten oder kritisch hinterfragten. Die Konferenz befasste sich daher mit einem weiten Themenspektrum: mit der Historizität von epistemischen Kategorien und Standards (etwa die Wiederholung von Experimenten im 17. und 18. Jahrhundert, die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Urteil, oder verschiedene Modelle der Erklärung und der kausalen Schlußfolgerung); mit der Historizität epistemischer Objekte, verstanden als „Geburt, Leben und Tod“ von wirklichen oder vermeintlichen Forschungsgegenständen wie das Phlogiston, das Elektron, das Gedächtnis oder die Ökonomie; und mit Modellen der Wissenschaftsentwicklung, die entweder einen Neo-Kantianischen Rahmen oder aber Theorien und Konzepten aktueller Kognitionswissenschaft nutzen, um vermeintliche oder wirkliche Fälle von Inkommensurabilität oder Revolutionen besser zu analysieren.
Dabei wurden besonders drei Varianten der historischen Epistemologie reflektiert, die von Wissenschaftlern am MPIWG vertreten werden und jeweils eigene Berührungspunkte mit der philosophischen Epistemologie haben: (1) Laut Lorraine Daston stellt historische Epistemologie die Kantische Frage über „the preconditions that make thinking this or that idea possible“, aber sie sieht diese Vorbedingungen als zutiefst historische an. Ihr zufolge wandeln sich nicht nur unsere Wissensansprüche und Rechtfertigungen. Vielmehr kann auch das Verständnis dessen, was überhaupt Wissen ist, historisiert werden. (2) Hans-Jörg Rheinbergers Version bezieht sich auf materielle – besonders experimentelle und technologische – Bedingungen, unter denen sich wissenschaftliches Wissen entwickelt. Sie geht außerdem einher mit einer Verlagerung des Schwerpunktes vom Studium des konzeptionellen Zugriffs auf ein Objekt durch ein kognitives Subjekt hin zur „Reflexion des Verhältnisses von Begriff und Objekt, die vom erkennenden Subjekt ihren Ausgang nahm“. Dies berührt die Realismus/Anti-Realismus-Debatte in der Wissenschaftsphilosophie, doch ohne deren weitgehende Beschränkung auf die Bedeutung theoretischer Begriffe in den Wissenschaften. (3) Jürgen Renn sieht die historische Epistemologie als eine historisch fundierte Theorie der langfristigen Wissensentwicklung an. Dies spricht die philosophische Frage nach wissenschaftlichem Fortschritt an, aber verfolgt sie in einer Form einer naturalistischen Epistemologie, die sich auf eine empirische Erklärung der Genese und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse konzentriert.
Während der Vorträge und Diskussionen wurde deutlich, dass sich diese Versionen historischer Epistemologie nicht (immer) gegenseitig ausschließen, sondern sich ergänzen und überschneiden können. Die Debatten über Erkenntnisgegenstände („epistemic things“) zeigten beispielsweise, dass deren „Leben“ oft mit langfristigen wissenschaftlichen Entwicklungen verbunden ist. Dass bestimmte Objekte für Wissenschaftler zu bestimmten Zeiten interessant werden und dann wieder vergessen oder vollständig übersehen werden aus Gründen, die nicht völlig rational sind, wirft die Frage auf, ob wissenschaftliche Entwicklungen nicht – um Thomas Kuhns Begriff zu gebrauchen – „revolutionäre“ Brüche aufweisen. In ähnlicher Weise kann die Frage, ob bestimmte Schritte in der langfristigen wissenschaftlichen Entwicklung rational sind, nicht unabhängig davon beantwortet werden, was die relevanten Akteure für legitime Schritte gehalten haben – was also ihre epistemischen Kategorien und Standards gewesen sind.
Dies hat eine wichtige Konsequenz. Historische Epistemologie hat Überlegungen einer zweiten Ordnung zu verfolgen: Man kann es nicht dabei belassen, die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens als solchem zu rekonstruieren. Es muss ein paralleles Programm der Untersuchung dessen geben, was die historischen Akteure für erlaubte oder empfehlenswerte Prozeduren hielten, also historische Rekonstruktionen von Begriffen wie Wissen, Evidenz, Experiment, Beobachtung, Wahrscheinlichkeit, Objektivität, Beweis und so weiter. Dieses Verständnis von historischer Epistemologie nähert sich in überraschender Weise dem einflussreichen neukantianischen Ansatz von Michael Friedman an. Er argumentierte, dass sich das Kuhnsche Problem der revolutionären Bruchstellen in wissenschaftlichen Entwicklungen, etwa in der Einsteinschen Revolution, nur lösen lässt, wenn nicht nur die Geschichte der relevanten empirischen und theoretischen Forschung untersucht wird, sondern auch die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Annahmen der Wissenschaftler, die an wichtigen Schritten in dieser Revolution beteiligt gewesen sind.
Einige Philosophen bemühten sich auf der Konferenz um eine Verknüpfung mit der Wissenschaftsgeschichte in anderer Weise. Sie plädierten für einen Naturalismus, also für die Sicht, dass Epistemologie die empirischen Wissenschaften nutzen soll, um zu untersuchen, wie Wissen sich entwickelt und wie es verbessert werden kann (sie lehnen oft die Idee ab, nach apriorischen Voraussetzungen des Wissens zu suchen). Peter Barker, Michael Heidelberger, Philip Kitcher und Sandra Mitchell verteidigten diesen Ansatz. Kitcher führte dabei eine neue Variante von historischer Epistemologie ein, die von der Behauptung ausging, dass Philosophen eine statische Sicht auf Wissen und seine Rechtfertigung aufgeben und stattdessen ein dynamisches Bild von Wissenschaft verfolgen sollten, mit dem sie in der Geschichte nach verlässlichen Methoden für die Revision von Überzeugungen suchen. Dies muss keine Unterordnung der historischen Epistemologie unter die naturalisierte Epistemologie bedeuten. Wie Mitchell anmerkte, müssen diejenigen Vertreter einer naturalisierten Epistemologie, die das Faktum des wissenschaftlichen Wandels anerkennen, auch akzeptieren, dass sich das eigene naturalistische Konzept von Wissenschaft ändern kann: „Wenn Epistemologie eine Geschichte hat, dann hat sie auch eine Zukunft.“ Die nahe liegende Frage lautet dann freilich: Erlaubt dieser Ansatz es, wissenschaftlichen Wandel zu erklären, ohne neukantianische Annahmen einzusetzen und ohne zu unbestimmt zu bleiben, um noch einen substanziellen Naturalismus darzustellen?
In solchen Diskussionen zeigten sich neue Möglichkeiten von Verbindungen zwischen Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Diese Optionen verlangen allerdings, typisch disziplinäre Sichtweisen und Forschungspraktiken stärker als bislang zu prüfen – eine anspruchsvolle Aufgabe für die Zukunft der historischen Epistemologie.