Forschungsthemen

Abb. 1: Zeichnung eines Schokoladentopfs aus Anne Fanshawes Rezeptbuch. Wellcome Library Western Manuscript 7113, fol. 154v.

Nr 30
Wie Rezepte in frühneuzeitlichen Haushalten Wissen schufen
In einem neuen Projekt untersucht die Wissenschaftshistorikerin Elaine Leong Hunderte Notizbücher. Sie versteht häusliches Wissen und Praktiken als Teil der wissenschaftlichen Welt des frühneuzeitlichen Englands.

Im Oktober 1711 stellte Elizabeth Freke, eine ältere Dame, die in Norfolk auf dem Land wohnte, eine Liste von „einigen der besten Dinge“ in ihrem Haus zusammen. Freke brauchte vier Tage, um in dem Notizbuch mit ihren Memoiren und ihren kulinarischen und medizinischen Rezepten Zimmer für Zimmer eine Bestandsliste zu notieren, die alle ihre irdischen Besitztümer erfasst, von Schmuck und Kleidung über Möbel und Wäsche bis zu den Töpfen und Pfannen in der Küche. In der Mitte dieser detaillierten Liste finden wir, was Freke in ihrer Vorratskammer in fünf abgeschlossenen Schränken aufbewahrte: „einige Flaschen stärkende Mittel 114 Quarts; Pints von Stärkungsmittel 36. Und von den verschiedenen Sorten Sirup 56 Quarts und Pints.“ An anderer Stelle verrät Freke, dass sie zusätzlich zu diesen 200 Flaschen umfangreiches Destilliergerät, um Arzneien herzustellen, sowie eine Anzahl volkstümlicher medizinischer Bücher besaß. Die Herstellung von Arzneien war offensichtlich eine Hauptaktivität in ihrem Haushalt.

Ein paar Jahre bevor Freke ihre Bestandsliste zusammenstellte, setzte sich eine andere ältere Dame, Lady Johanna St. John, hin, um ihr Testament zu schreiben. St. Johns Testament umfasst die übliche Liste persönlicher Hinterlassenschaften – sie vermachte ihrem ältesten Sohn ihre Bibel, ihren Töchtern und Enkelinnen verschiedene Möbelstücke, Gemälde und Silber sowie alten, getreuen Dienern kleine Geldbeträge und Wäsche. Neben diesen gewöhnlichen Erbstücken werden zwei Rezeptbücher erwähnt. Das erste ist ein Buch mit „Koch- und Einmachrezepten“, das sie ihrer „Enkelin Soame“ vermacht, das zweite, ihrer Tochter Cholmondley zugedachte, war ihr „großes Rezeptbuch“. Letzteres, das sich heute in der Wellcome Library befindet, ist ein kleines in Leder gebundenes Notizbuch, auf dessen Einband die Initialen I. S. geprägt sind. Das Buch ist in alphabetischer Reihenfolge mit Arzneimitteln gegen jede Art von Gebrechen und Krankheiten von Schüttelfrost über Husten bis Fieber vollgeschrieben, die Johanna im Verlauf ihres Lebens zusammengetragen hat. Dass St. John diese beiden Notizbücher in ihr Testament aufnahm, deutet darauf hin, dass Rezeptsammlungen, ob sie nun aus Anleitungen zum Kuchenbacken, zum Marmeladekochen oder zur Arzneimittelherstellung bestanden, als Familienerbstücke verstanden wurden. Genauso wie Elizabeth Freke ihre 200 Flaschen Medizin für wertvoll genug befand, um eingeschlossen und in ihre Liste von „besten Dingen“ aufgenommen zu werden, zählte Johanna St. John ihr eigenes in den beiden Rezeptbüchern angehäuftes Haushaltswissen zu ihren wichtigsten Besitztümern.

Wellcome Library Western Manuscript 4338. Front cover and fol. 1r.

Abb. 2: Wellcome Library Western Manuscript 4338. Buchdeckel und fol. 1r.

Die Bedeutung, die diese beiden älteren Damen Arzneien und medizinischem Wissen beimaßen, weist auf die zentrale Rolle hin, die Gesundheitsfürsorge und Medizin in frühneuzeitlichen Häusern spielten. Sie ist außerdem ein Hinweis darauf, welches Interesse medizinischen und kulinarischen Rezepten in Privathaushalten entgegengebracht wurde. Rezepte zu sammeln war dabei kein ausschließlich weiblicher Zeitvertreib, frühneuzeitliche Väter, Onkel und Söhne nahmen ebenso begeistert daran teil. Zum Beispiel tauschten und diskutierten in den 1650er Jahren Edward Viscount Conway und Colonel Edward Harley Rezepte in Briefen, und Sir Peter Temple fertigte speziell auf seine Tochter Eleanor zugeschnittene Rezeptbücher an. Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass es im England der frühen Neuzeit gang und gäbe war, Rezepte zu sammeln, zu tauschen und auszuprobieren, stellen viele der Bücher, die fast ohne oder ganz ohne theoretische Erklärung in dichter Reihenfolge ein Rezept nach dem anderen auflisten, Historiker und Literaturwissenschaftler vor Rätsel. Warum waren Männer und Frauen in der Frühen Neuzeit so neugierig auf Rezepte und so begeistert davon? Welche Rolle spielten diese Texte bei der Bildung von häuslichem Wissen über die Natur? Wie passen Rezepte und praktisches Wissen zu weiterreichenden medizinischen und wissenschaftlichen Betätigungen?

Sammlungen von Haushaltsrezepten bilden als Kompendien praktischen Wissens die Hauptquelle für die Untersuchung der informellen Wissensbildung. Diejenigen, die solche Texte zusammenstellten, begannen damit, dass sie neue und für sie nützliche Informationen ausfindig machten und sammelten. Sie befragten Freunde, Familie und Ärzte und schrieben die eifrig gesammelten Rezepte in Notizbücher verschiedenen Umfangs. Diese Informationen wurden dann durch das Haushaltskollektiv geprüft, bewertet und verändert, und nur die Informationen, die diese Prüfung bestanden, wurden in das Familienrepertoire aufgenommen. So sind Rezeptsammlungen, obwohl sie anscheinend mit Hausfrauen- und Haushaltsangelegenheiten angefüllt sind, tatsächlich Dokumente einer Reihe von Aktivitäten der Wissensbildung. Zentral für den Prozess des Rezeptsammelns sind zunächst Erfahrung und Beobachtung. Die Sammler übertrugen die medizinische Verantwortung aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit bestimmten Heilverfahren oder als Zeugen von Behandlungen auf mögliche Rezeptgeber. Das Prüfen und alle späteren Veränderungen des Rezepts geschahen auf der Grundlage von eigenen Versuchen, die Familienmitglieder und Angehörige durchführten. Versuch und Prüfung wurden nicht deshalb so wichtig genommen, weil man neue theoretische Modelle entwickeln wollte (und das tat man meistens auch nicht), sondern dadurch sollten die Wirksamkeit und die Zuverlässigkeit von einzelnen Mitteln festgestellt und gesichert werden. Neuere Untersuchungen in der Wissenschafts- und Medizingeschichte stellen die traditionellen Theorien, Schauplätze und Akteure der Wissensbildung infrage. Forscher wie Deborah Harkness haben den Haushalt der frühen Neuzeit nicht nur als sozialen, ökonomischen, politischen und geistigen Mittelpunkt, sondern auch als einen der wichtigsten Orte für eine Reihe von Aktivitäten der Wissensproduktion identifiziert. Gleichzeitig sind Pamela Smith und andere dem Ruf nach einer inklusiveren Definition von medizinischem und „wissenschaftlichem“ Wissen gefolgt und haben auf die unzähligen Verfahren aufmerksam gemacht, durch die Wissen erzeugt werden kann: Verfahren wie Lesen und Schreiben, das Sammeln von Informationen und das Herstellen von materiellen Gegenständen (insbesondere im Zusammenhang mit Kunsthandwerk und Technik). Indem es sich auf frühere Untersuchungen stützt, erhellt das Projekt „Schätze für die Gesundheit“ darüber hinaus häusliche medizinische und „wissenschaftliche“ Tätigkeiten und verortet diese informellen Praktiken der Wissensbildung innerhalb der übergreifenden Narrative von Medizin und Wissenschaft in der frühen Neuzeit.

A woman hard at work distilling. Scene opposite title page of The accomplished ladies rich closet of rarities (London, 1691). Image courtesy of Wellcome Library, London.

Abb. 3: Eine Frau beim Destillieren. Gegenüberliegend zur Titelseite von The accomplished ladies rich closet of rarities (London, 1691). Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Wellcome Library, London.

Das Zusammensammeln von medizinischen Informationen in Form von kurzen, prägnanten Rezepten hat eine lange Tradition, die von der Antike bis ins 19. Jahrhundert reicht. Frühneuzeitliche englische Rezeptsammlungen stehen sehr stark in dieser Tradition, sind aber deshalb besonders interessant, weil sie dem Einfluss mehrerer großer Verschiebungen in der Geschichte von Medizin und Wissenschaft und der Geschichte des Buches unterliegen. Erstens wurden diese Bücher in einer Zeit geschrieben, als weibliche Pflegekräfte, die in häuslichen Umgebungen arbeiteten, zunehmend Lesen und Schreiben lernten und damit die Fähigkeit erlangten, ihre Tätigkeiten zu dokumentieren. Monica Green hat kürzlich in Making Women’s Medicine Masculine gezeigt, dass sich das Haushaltsrezeptbuch für Frauen als Beiträgerinnen, Autorinnen, Expertinnen und Sachkundige in der Renaissance öffnete, zu dem Zeitpunkt, als die Medizin als Wissenschaft nach und nach ihre Türen für Frauen schloss. Die Analyse dieser Texte bietet uns also einen einzigartigen Blick in die Art von Wissen, das Mütter, Ehefrauen und Töchter ausfindig gemacht, ausprobiert und angewandt haben, und in die Geschlechterdynamik bei der Wissensproduktion und -weitergabe. Zweitens beschreiben diese Bücher auch sehr genau das Zusammenspiel von häuslichen und kommerziellen medizinischen Praktiken während eines entscheidenden Zeitraums im Narrativ der Kommerzialisierung der Medizin und der zunehmenden Inanspruchnahme medizinischer Versorgung. Schließlich wurden diese sowohl in handschriftlicher als auch gedruckter Form florierenden Bücher zu einer Zeit geschrieben, als Schreiber, Drucker und Leser daran arbeiteten, die Rolle dieser beiden Kommunikationsmittel zu bestimmen. Deshalb dient die Untersuchung von Rezepten und Rezeptsammlungen auf der „Suche nach Ordnung“ nicht nur im Bereich der Buchgeschichte als ideale Fallstudie, sondern auch im Bereich der Medizin-, Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte.

Anonymous, Portrait of Johanna St. John circa 1690, Collection of Lydiard House and Park. Image courtesy of Lydiard House and Park, Swindon.

Abb. 4: Anonym, Portrait von Johanna St. John circa 1690, Sammlung von Lydiard House and Park. Zur Verfügung gestellt von Lydiard House and Park, Swindon.

„Schätze für die Gesundheit“ ist in dem Forschungsnetzwerk um die von der Max-Planck-Gesellschaft finanzierte Forschungsgruppe Die Natur lesen und schreiben in der Frühen Neuzeit angesiedelt. Es wird parallel zu einer Reihe verwandter Projekte durchgeführt. Das Thema Notizbücher, Papierwerkzeuge und Papiertechniken wird im Rahmen des zusammen mit Lauren Kassell 2013 an der Universität Cambridge organisierten Workshops Notizbücher, Medizin und die Wissenschaften im Europa der Frühen Neuzeit weiter untersucht. 2014 wird das MPIWG in Zusammenarbeit mit Alisha Rankin von der Tufts University die Arbeitsgruppe Prüfung von Arzneimitteln und Erprobung von Heilverfahren in der frühneuzeitlichen Welt beherbergen, die untersucht, wie vormoderne Heilverfahren ausprobiert, wie mit ihnen experimentiert und wie sie bewertet wurden. Schließlich betreibe ich in Zusammenarbeit mit Lisa Smith von der Universität Saskatchewan „Das Rezepteprojekt“: eine Internetplattform, die mittels Crowdsourcing Transkriptionen frühneuzeitlicher Rezepte erstellt, und ein wissenschaftliches Blog, das Beschreibungen von vorneuzeitlichen Rezepten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.