Forschungsthemen

Montage aller Arbeitsbände der Abteilung II.

Nr 64
Vierundzwanzig Jahre Geschichte der Rationalität
Ein Seefahrer richtet seinen Kurs nach den Sternen; ein Weber bepannt seinen Webstuhl nach einem komplizierten Muster aus Farben und Formen; ein Stadtbeamter erkennt die Verbindung zwischen einem bestimmten Brunnen und dem Ausbruch einer Epidemie; ein Braumeister korrigiert seine Zutaten, um die Gärung zu beschleunigen; ein Höfling leitet aus einem Blickwechsel eine königliche Intrige ab; ein Bürokrat organisiert das Steuersystem eines Reiches; ein Kräuterkundler identifiziert eine Pflanze, die Wunden heilt.

Alle diese Errungenschaften können sicherlich als Wissen, und sogar als hoch entwickelte Wissensformen bezeichnet werden, die auf genauer Beobachtung, ausgereiftem Urteilsvermögen und subtiler Schlussfolgerung basieren. Ihre Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Nützlichkeit stehen außer Frage; ihre Rationalität beim Einsatz von Mitteln zum Zweck ist unbestreitbar. Ist dies jedoch die gleiche Art von Rationalität wie sie bei einer mathematischen Beweisführung, einer präzisen Messung unter kontrollierten Laborbedingungen, der Lösung einer spieltheoretischen Matrix, der Erstellung einer anatomischen Zeichnung oder der Rekonstruktion des Stammbaums eines uralten Textes zum Einsatz kommt? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, der all diese rationalen Praktiken verbindet, die über die Grenzen von Kopf und Hand, Wissenschaft und Wissen, Natur- und Geisteswissenschaften hinausgreifen?

Dies sind Fragen, die das Forschungsprogramm der Abteilung II seit 1995 geprägt haben. Abteilung II, die sich dem Verständnis der „Ideale und Praktiken der Rationalität“ verschrieben hat, untersucht die Formen der Rationalität seit 24 Jahren anhand historischer, interkultureller und disziplinübergreifender Vergleiche. Mit der Emeritierung von Direktorin Lorraine Daston im Juni 2019 ist die Arbeit der Abteilung beendet. Was haben wir über Rationalität gelernt?

 

 

book cover: Lorraine Daston: Biographies of Scientific Objects (2000)

Daston, L. (Ed.). (2000). Biographies of Scientific Objects. Chicago: Chicago University Press.

book cover: Aronova/ von Oertzen/ Sepkoski: Data histories (2017)

Aronova, E., Oertzen, C.v., & Sepkoski, D. (Eds.). (2017). "Data Histories "[Special Issue]. Osiris, 32.

 

Erstens: Einem scheinbar zeitlosen Begriff wie Rationalität eine Geschichte zu geben, bedeutet, sich zunächst mit der außerordentlichen Vielfalt ihrer Formen auseinanderzusetzen. Was für den Philosoph eine begriffliche Inkohärenz wäre, ist für den Historiker ein Glücksfall. Vielfalt, das bedeutet unterschiedliche Geschichten und epistemische Ziele. Die Veröffentlichungen der Arbeitsgruppnen von Abteilung II, beispielsweise Biographies of Scientific Objects (2000), Histories of Scientific Observation (2011) und Data Histories (2017) dokumentieren die Vielfalt der Formen von Rationalität, die in wissenschaftlichen Erfahrungen abgebildet sind, sowie die Zusammenhänge, in denen diese entstanden. Einige Formen bildeten sich bereits sehr früh heraus und bestanden lange fort, wie die systematische astronomische Beobachtung, die im alten Mesopotamien und China einsetzte, oder die klinische Beobachtung der altägyptischen und griechischen Medizin; andere, wie die chemische Analyse, die soziologische Untersuchung oder die randomisierte klinische Prüfung, tauchten erst viel später auf, und weiterhin entwickeln sich neue Formen wie Computersimulation und Big Data Mining.

Diese unterschiedlichen Geschichten hinterlassen tiefe Spuren in der aktuellen wissenschaftlichen Praxis. Obgleich all diese durch Methode und Reflexion systematisierten Formen der Erfahrung zweifellos rational sind, sehen wir uns aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichten bei ihrer Integration vor eine Herausforderung gestellt: Wie sollen beispielsweise die Ergebnisse klinischer Beobachtungen und randomisierter klinischer Prüfungen in der Medizin oder physikalische und statistische Modelle der Meteorologie integriert werden? Auch in formaleren Wissenschaften können besondere historische Umstände zu Divergenzen führen: So zeigte beispielsweise der Arbeitsgruppenband How Reason Almost Lost Its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality (2013), wie die nukleare Pattsituation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion während des Kalten Krieges eine Rationalität starrer Regeln förderte, die im Widerspruch zu traditionellen Idealen von Vernunft und Urteilsvermögen stand.

 

book cover: Daston, L. (Ed.). (2013). How Reason Almost Lost its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality. Chicago: Chicago University Press.

Daston, L. (Ed.). (2013). How Reason Almost Lost its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality. Chicago: Chicago University Press.

 book cover: Daston/ Lunbeck: Historied of Scientific observation (2011)

Daston, L., & Lunbeck, E. (Eds.). (2011). Histories of Scientific Observation. Chicago: University of Chicago Press.

Zweitens: Diese Art von Geschichte erzwingt ein Umdenken nicht nur in Bezug auf Chronologie und Geographie, sondern auch in Bezug auf Form und Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte. In den letzten 30 Jahren hat sich die Wissenschaftsgeschichte durch ihren Fokus auf Kontext und Praxis verändert. Die Forschung von Abteilung II steht ganz wesentlich im Zeichen dieser Entwicklung. Doch die lokalen Kontexte sind oft Teilbereiche der allgemeinen Geschichte definiert und diese selbst wiederum Produkt national ausgerichteter Historiographien. Sie passen schlecht zu der langsamen, weitreichenden Geschichte der Rationalität, die sich über Kontinente und Jahrhunderte erstreckt. Veröffentlichungen der Arbeitsgruppen The Moral Authority of Nature (2004), Science in the Archives (2017) und Entangled Itineraries: Materials, Practices, and Knowledges across Eurasia (2019) siedelten ihre Themen daher in großen Zeitrahmen und breiten geografischen Grenzen an, die bewusst über traditionelle Fachgebiete der Geschichte und der Wissenschaftsgeschichte hinausgingen.

 

book cover: Lorraine Daston: Science in the archives - Past, presents, futures (2017)

Daston, L. (Ed.). (2017). Science in the  Archives: Pasts, Presents, Futures. Chicago: The University of Chicago Press.

 book cover: Smith, P.H. (ed.). (2019). Entangled Itineraries: Materials, Practices, and Knowledges across Eurasia. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.

Smith, P.H. (ed.). (2019). Entangled Itineraries: Materials, Practices, and Knowledges across Eurasia. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.

book cover: Daston, L., & Vidal, F. (Eds.). (2004). The Moral Authority of Nature. Chicago: Chicago University Press.

Daston, L., & Vidal, F. (Eds.). (2004). The Moral Authority of Nature. Chicago: Chicago University Press.

Veröffentlichungen anderer Arbeitsgruppen wie Historia: Learned Empiricism and Erudition in Early Modern Europe (2004), Canonical Texts and Scholarly Practices: A Global Comparative Approach (2016) und Histories of Bureaucratic Knowledge (2020) reichten ebenso über die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wissen sowie über Natur- und Geisteswissenschaften hinaus. Alle Wissenschaftshistoriker und -historikerinnen sind sich bewusst, dass ihr Forschungsgegenstand, die Wissenschaft, selbst ein Produkt der Geschichte ist und dass verschiedene Epochen, Kulturen und Sprachen auffallend unterschiedlich definieren, was die für sie jeweils angesehenste Form des Wissens ist. Die einen mögen textbasiertes Wissen schätzen, andere bevorzugen technologische Innovationen, wieder andere stellen das Theorieverständnis über alles.

 

 

 book cover: Pomata/ Siraisi: Historia (2005)

Pomata, G., & Siraisi, N. G. (Eds.). (2005). Historia: Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Cambridge, Mass. [u.a.].

Was die Geschichte der Rationalität zu dieser laufenden Debatte über die Wissenschaftsgeschichte beiträgt, sind Dimensionen des Vergleichs, die keine moderne Wissenschaftsperspektive voraussetzen, für diese jedoch zweifellos relevant sind. So sind beispielsweise epistemische Tugenden wie erklärende Kohärenz, Kontinuität der Tradition, Vorhersagegenauigkeit, Allgemeingültigkeit, Gewissheit, Präzision und Objektivität nicht immer gleichzeitig vertreten oder aber stehen nicht immer im Einklang miteinander, können je nach Kontext unterschiedliche Stufen in der Wertehierarchie einnehmen und haben alle ihre eigene Geschichte. Diese epistemischen Tugenden gehören zur Rationalität, jedoch nicht allesamt und gleichermaßen für alle Formen der Rationalität. Wenn man über diese Ideale der Rationalität und die Praktiken, die sie einsetzen, nachdenkt, bietet sich eine alternative Möglichkeit der Konzeptualisierung der gegenwärtig zutiefst asymmetrischen Trennung zwischen moderner Naturwissenschaft und Wissen. Diese Trennung definiert Letzteres nebulös als all das, was außerhalb der modernen Naturwissenschaft liegt, angefangen von den Geisteswissenschaften über den Schiffbau bis hin zur Militärstrategie.

 

book cover: Most, G. W. (2016). Canonical Texts and Scholarly Practices: A Global Comparative Approach. Cambridge: Cambridge University Press.

Most, G.W. (2016). Canonical Texts and Scholarly Practices: A Global Comparative Approach. Cambridge: Cambridge University Press.

Drittens: Eine in diesem Maßstab des großen Panoramas aufgespannte Geschichte der Rationalität kann nur von einem Kollektiv geleistet werden. Nicht alle der nahezu 1.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die der Abteilung II angehörten, waren Mitglieder der Arbeitsgruppen, in denen die Veröffentlichungen der Institutsabteilung entstanden. Jedoch leistete jeder und jede Einzelne von ihnen einen Beitrag zu der lebendigen intellektuellen Gemeinschaft, die unter den Alumnae und Alumni der Abteilung weiterleben wird.

 

Über die Autorin

Lorraine Daston leitete von 1995 bis 2019 Abteilung II (Ideals & Practices of Rationality). Sie bleibt als emeritierte Direktorin am MPIWG.