Forschungsthemen

Seven tunics and three humors of eye and skull, labeled for conjunctiva, cornea, uvea, albugineus (aqueous) humor, tunica aranea, cystalline humor, lens. In book of Macharias called Salaracer or secret of secrets, C14–15th. Source: British Library.

Nr 59
Erfahrung in den vormodernen Wissenschaften von Körper und Geist ca. 800–1650
Von 800 bis 1650 breiteten sich die aristotelischen Wissenschaften von Körper und Geist wie auch die galenisch-avicennische Medizin in der islamischen Welt, in Europa, in Lateinamerika und in Ostasien aus. Zahlreiche Historiographien setzen den Beginn der empirischen Methode, der brennpunktartig in den Begriffen „Experiment“ und „Beobachtung“ seinen Ausdruck findet, in der frühen Neuzeit an.

Unsere neue Forschungsgruppe „Experience in the Premodern Sciences of Body & Soul“ untersucht den Erfahrungsbegriff in den Wissenschaften, die sich mit den Lebewesen, also mit Pflanzen, Tieren und Menschen, befassen und hinterfragt die weit verbreitete Ansicht, dass Erfahrung bei der Entstehung des vormodernen Wissens über die Natur eine minimale Rolle spielte. Forschungsziel unserer Gruppe ist es, die in der Vormoderne mit dem Erfahrungsbegriff verbundenen Ideale und Praktiken sowie die materiellen Artefakte, kulturellen Bedingungen, (Trans-)Formations- und Verbreitungsprozesse, die ihn geprägt und verändert haben, zu beleuchten.

Empeiria (wissenschaftliche Erfahrung) ist, wie uns Aristoteles in seiner Metaphysik und seiner Zweiten Analytik lehrt, kein einzelner Sinneseindruck dieses Wolfs oder dieses Schafs, sondern vielmehr eine bereits konfigurierte mentale Vorstellung, ein nahezu universelles Konzept. Empeiria leitet sich aus einer Vielzahl von Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen ab und ist im kognitiven Prozess der vorletzte Schritt, der zu Allgemeinbegriffen führt. Dieser kognitive Prozess war für zahlreiche Aristoteliker dadurch abgesichert, dass allen Menschen dieselben Funktionen ihrer seelischen Vermögen zukamen. Dies implizierte, dass Erfahrungen der natürlichen Welt nicht nur individualisiert, sondern aufgrund der geteilten menschlichen Natur und ihrer Funktionsweise zumindest prinzipiell universalisierbar waren.

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Abb. 1: Cheshm-Manuskript ca. 1200 n. Chr., Ägyptische Nationalbibliothek. Lizenzfrei.

So wie diese Annahme die frühen Phasen der vormodernen Wissenschaften von Körper und Geist die Theorie der Seele prägte, so bestimmte sie auch die Praktiken ihrer Vertreter, die Kommentare zu Aristoteles schrieben und die diese häufig um empirische Daten erweiterten. Albert der Große sezierte beispielsweise Bienen und stellte fest, dass sie Honig in einer speziellen Blase transportieren (wie er in De animalibus erklärte), und über die Dauer von sechs Jahren erklomm er wiederholt steile Berge, um zu beobachten, wie viele Junge die Adlerart Herodius hervorbringt. Mit diesen und anderen Erfahrungen stimmten Albert und seine Zeitgenossen in den gregorianischen Gesang der einen universellen Erfahrung ein, die sie als zeit- und kulturübergreifend über die Jahrhunderte in bedeutenden Büchern und Kommentaren überlieferten. Schriftliche Autoritäten, Vernunft und Erfahrung bildeten dabei ein Kontinuum kognitiver Funktionen, die zur Erkenntnis der Naturdinge führten, und entwickelten sich erst allmählich zu konträren epistemischen Idealen, als aufkommende Skepsis gegenüber aristotelischen Kognitionstheorien und Diversifizierung der Wissenstraditionen das Vertrauen in eine gemeinsame empeiria schwinden ließen.

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Abb. 2: Arterien des menschlichen Körpers mit Fötus in Gebärmutter. Aquarell mit Feder und Tusche, von einem persischen Künstler, Datum unbekannt. Quelle: Wellcome Collection.

Die Betonung der Universalität der Erfahrung ging zunächst von den Rationalisten – Philosophen und Ärzten – der islamischen Welt aus, mit Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroës) als bedeutende Vertreter. Ausgangspunkt unserer Forschungsgruppe stellt das Jahr 800 dar, als die Kreise um Al-Kindī und Ḥunayn ibn Isḥāq (Iohannitius) mit Übersetzungen und Kommentaren zu den altgriechischen Wissenschaften von Körper und Geist begannen. In unseren Forschungen werden wir die Errungenschaften des Avicenna, dessen medizinischer Kanon bis weit nach 1650 gelesen wurde, und des Averroës in den aristotelischen und benachbarten Lebenswissenschaften, wie der Medizin, eingehend untersuchen.

Der Weg, den der Erfahrungsbegriff in den vormodernen Lebenswissenschaften durch Europa, Amerika und Ostasien mit ihren je eigenen Kulturen und Kontexten nahm, wirft aber auch Fragen bezüglich der Dynamik und Stabilisierung wissenschaftlicher Erfahrungsideale und –praktiken auf. In Europa wurden mittelalterliche Referenzwerke kreativ mit Erfahrungsbeispielen durchsetzt, wie es in Albertus Magnus’ Kommentaren zu Aristoteles’ De animalibus und De vegetabilibus sichtbar ist. Später entwickelte die Historia-Tradition des sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts, wie beispielsweise in Conrad Gessners Historia animalium, Berichte über Tiere der Neuen Welt und berief sich zunehmend, auch in Anlehnung an die Realiengeschichtsschreibung der Antike und des Mittelalters, auf deskriptive Beobachtungen in ihren Verfahren.  

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Abb. 3: Anfangsbuchstabe „Q“(uedam) mit Tusche floral umrahmt, in Aristoteles, De animalibus, zweite Hälfte des 13. Jh. Quelle: British Library.

In unseren Forschungen zu den vormodernen Wissenschaften von Körper und Geist und deren Begegnungen mit neuen Naturwelten und Wissenstraditionen werden wir uns auf die wissenschaftliche Erfahrung, wie sie von den historischen Akteuren selbst verstanden wurde, Bezug nehmen. Dominante Muster, die im Erfahrungsbegriff der Vormoderne in verschiedenen Kontexten gleich blieben, sowie Einflüsse zwischen den Diffusions- und Interaktionsräumen werden von uns ebenso erforscht wie Erklärungen für die (Trans-)Formationen gängiger Ideale und Praktiken aufgrund veränderter Natur- oder Kulturräume oder anderer Denktraditionen. Besonderes Augenmerk unserer Projekte wird auf der Übereinstimmung der wissenschaftlichen Ideale mit den angewandten Praktiken liegen, um herauszufinden, wann sich der Schwerpunkt vom „Licht des Geistes“ zum „Licht der Natur“ verlagerte. Es ist unser Ziel, ein Forschungsgebiet aufzubauen, das dem Zeitraum unserer Forschungen gerecht wird, indem wir die Wissenschaftsgeschichte eng mit der Medizin- und Philosophiegeschichte verbinden.

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Abb. 4: Miniaturen: Aristolongia oder rundknollige Osterluzei; Aristolongia longa oder langwurzelige Osterluzei; Pottwal; züngelnde Schlange, um 1280–1310, von Bartholomaei Mini de Senis; Platearius; Nikolaus von Salerno. Quelle: British Library.

Die Forschungsfrage unserer fünfjährigen Gruppe lässt sich wie folgt zusammenfassen: Welche Rolle spielte die Erfahrung in den vormodernen Wissenschaften von Körper und Geist im Zeitraum von ca. 800–1650, und wie entfaltete sie sich über Zeit und Raum hinweg? Unser erstes Forschungsjahr wird veranschaulichen, wie sich die Ideale und Praktiken der vormodernen Erfahrung in der arabisch-persischen, lateinischen und chinesischen Welt wandelten. Katja Krause, die Forschungsgruppenleiterin, wird mit ihrem neuen Buchprojekt den Erfahrungsbegriff in den Lebenswissenschaften des Mittelalters und Renaissance beleuchten, und untersuchen, wie wichtige Vertreter der Zoologie, Botanik und Medizin vom 13. bis 16. Jahrhundert Ideale über die menschliche Seele entwickelten, die die epistemische Wertigkeit der Erfahrung in diesen Wissenschaften in ihren Praktiken prägten und dominierten.

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Abb. 5: Zeichnung des Menschen mit bekannten Körperteilen, medizinische Sammelbände, Deutschland, 15. Jh. Quelle: British Library.

Andere Projekte unserer Forschungsgruppe konzentrieren sich auf Schulen und Gelehrte in China, Botanik in Indien, Utopien des Wissenserwerbs in Frankreich, Wissenschaften der Jesuiten in China, Entwicklungen der Anatomie des Auges in deutschen Landen, mittelalterliche lateinische Kommentare zu Aristoteles und die Forensik der Unvergänglichkeit des menschlichen Körpers in Europa. Ein erster Sammelband wird untersuchen, wie und warum die Erfahrung der natürlichen Welt über Raum und Zeit hinweg durch Übersetzungsprozesse transformiert wurde. Ein von allen Mitgliedern der Gruppe erstelltes Lehrbuch wird eine neue globale Geschichte der Erfahrung in den vormodernen Wissenschaften von Körper und Geist in den Primärquellen liefern.

Katja Krause ist Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe „Experience in the Premodern Sciences of Soul & Body ca. 800-1650“, die im November 2018 ihre Arbeit aufgenommen hat.