Forschungsthemen

Michael Maier, „Emblema VI. Seminate Aurum Vestrum in Terram Albam Foliatam“. In Atalanta Fugiens. Oppenheim, Deutschland: Johann-Theodor de Bry, 1618. Quelle: https://digital.sciencehistory.org/works/zk51vh57b. Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Nr 79
Ein Lebenselixier? Zur landwirtschaftlichen Nutzung der Alchemie im Europa der Frühen Neuzeit um 1550-1730
Den frühneuzeitlichen Verfasser*innen von Agrarhandbüchern zufolge befand sich die Landwirtschaft seinerzeit in einer Krise. Die Böden waren ausgelaugt, die Äcker brachten kleinere und weniger Feldfrüchte hervor, die Vegetationsperioden fielen kürzer und kühler aus, und die Nahrungsmittelproduktion wurde dem Bevölkerungswachstum und dem Bedarf nicht länger gerecht. Doch wie sich der Krise begegnen ließ, war Gegenstand heftiger, teils erbitterter Debatten. Ein entscheidender Faktor war dabei, dass in der Frühen Neuzeit zwar die meisten Menschen in der Landwirtschaft tätig waren und die Arbeit profunde botanische, chemische, mineralogische und meteorologische Kenntnisse erforderte, dass sich aber so gut wie keiner der führenden Expert*innen auf diesen Gebieten nachhaltig und experimentell mit landwirtschaftlichen Fragen beschäftigte.

Für die Menschen der Frühen Neuzeit lag es nahe, bei der Alchemie nach Antworten auf die bestehenden Probleme zu suchen. Auch wenn die Alchemist*innen heute vor allem für ihre Versuche bekannt sind, Blei in Gold umzuwandeln und das menschliche Leben mit chemischen Elixieren zu verlängern, gingen ihre intellektuellen Anstrengungen weit darüber hinaus, und so nutzten die Agrarreformer*innen des 16. und 17. Jahrhunderts alchemistische Theorien und Praktiken, um die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern. Für sie war die Alchemie nicht einfach eine geheimnisvolle, hermetische Kunst, die in Laboren, in Werkstätten und an Fürstenhöfen ausgeübt wurde, sondern eine umfassende Weltanschauung, mit der sich physikalische und chemische Veränderungen im Kosmos und auf der Erde erklären ließen. Zudem lieferte ihnen die Alchemie eine Reihe von Praktiken, die sich auf zahlreichen Arbeitsfeldern, wo Prozesse der Erzeugung, des Wachstums und der stofflichen Umwandlung der Erklärung bedurften, anwenden ließen, etwa in der Landwirtschaft, der Küche, dem Obstanbau und dem Gartenbau. Vor allem jedoch stellte die Alchemie für die Agrarreformer*innen eine chemische Technologie dar, die für eine Verbesserung der Landwirtschaft sorgte, indem sie die Fruchtbarkeit des Bodens steigerte und die Keimung des Saatguts beschleunigte und die Pflanzen gegen Krankheiten resistent machte. Im Mittelpunkt meines Projekts „Landwirtschaftliche Anwendungen der Alchemie im Europa der Frühen Neuzeit“ steht die Frage, auf welche Weise alchemistische Theorien und Praktiken einen kleinen, gleichwohl entscheidenden Beitrag zur landwirtschaftlichen Revolution im Europa der Frühen Neuzeit leisteten.

Plat barley stalks, 1594.

Nachweis vergrößerter Gerstenhalme nach einem Rezept mit gebrannter Seifenasche. Quelle: Hugh Plat, The Jewel House of Art and Nature (London, 1594), [sig.] A1v. Öffentliche Domäne.

Die Vorstellung eines universellen Lebensgeists

Der Gedanke, dass die Alchemie zu einer Verbesserung der Landwirtschaft beitragen könnte, entwickelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts, als die Alchemist*innen vitalistische Auffassungen der Materie aufzunehmen begannen, indem sie Wachstum und Veränderung von Pflanzen, Tieren und Mineralien einer einzigen Lebenskraft zuschrieben. Noch im Mittelalter hatten vitalistische Vorstellungen in der westlichen Alchemie so gut wie keine Rolle gespielt, doch im 16. Jahrhundert entstanden neue theoretische Schulen, die jeglicher Materie einen Lebensgeist (spiritus mundi oder spiritus vitalis) zusprachen, der für die Erzeugung und das Wachstum von Metallen, Mineralien und Pflanzen verantwortlich sei. Diesen Alchemist*innen zufolge verfüge sämtliche Materie über „Samen“ (semina) oder „Sperma“ (sperma) sowie eine „Kraft der Verwandlung oder Verarbeitung“ (archeus), wobei letztere Kraft die Transformationen in sämtlichen Bereichen der Metallurgie und der Pflanzenwelt bewirke. Zugleich nahmen die Alchemist*innen für sich in Anspruch, diese Kraft experimentell isolieren und für die Landwirtschaft nutzbar machen zu können.

Maier Atalanta Fugiens, 1618.

Michael Maier, „Emblema VI. Seminate Aurum Vestrum in Terram Albam Foliatam“. In Atalanta Fugiens. Oppenheim, Deutschland: Johann-Theodor de Bry, 1618. Quelle: https://digital.sciencehistory.org/works/zk51vh57b. Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Alchemie in der Praxis

Die landwirtschaftliche Nutzanwendung der Alchemie wurde insbesondere von Mitgliedern des Hartlib-Kreises vorangetrieben. Dieses lose Netzwerk von Gelehrten und Sozialreformern – benannt nach dem Universalgelehrten Samuel Hartlib – tauschte sich über die Ergebnisse von Experimenten aus und führte theoretische Diskussionen über Fragen der Alchemie, Mineralogie und Mathematik, aber auch über Probleme der Handelspolitik, der Bildungsreform und der englischen Besiedlung Irlands. Die Mitglieder engagierten sich für alle erdenklichen Vorhaben zur Verbesserung des sozialen Wohlergehens, zur Linderung der Armut, zur Steigerung der öffentlichen Einnahmen und zur Reform der politischen Strukturen sowie insbesondere auch für landwirtschaftliche Projekte. Für die Agrarreformer*innen innerhalb des Kreises betrafen die Theorien und Praktiken der Alchemie nicht allein die Transmutation von Blei in Gold, sondern die Umwandlung sämtlicher natürlichen Materie, wodurch sie für die Lösung praktischer landwirtschaftlicher Probleme relevant wurden.

Ein Beispiel hierfür war der Versuch von Agrarreformer*innen wie Benjamin Worsley und Cheney Culpeper, Zentren der Salpeterproduktion – die der Versorgung der Armee mit Schießpulver dienten – für die Herstellung von Kunstdünger umzuwidmen, ausgehend von der alchemistischen Überzeugung, Salpeter enthalte als „Pflanzensalz“ den Lebensgeist, der das Leben ermögliche. In einem anderen Projekt veränderten Agrarexperimentierende wie Robert Child und Henry Jenney mithilfe alchemistischer Rezepturen Saatgutbeize – Flüssigkeiten, mit denen das Saatgut vor der Aussaat behandelt wurde – und stellten auf diese Weise sogenannte „Fruchtbarkeitswässer“ her, chemische Mischungen, die die Fertilität steigern oder vor Insekten und Nagetieren schützen sollten. John Beale, Besitzer eines Apfelgartens und Förderer einer Vielzahl landwirtschaftlicher Experimente, beschrieb in einer unveröffentlichten Abhandlung das Veredeln von Bäumen als alchemistischen Prozess, im dem die neu entstehenden Pflanzen „transmutiert und verbessert“ würden.

Die Protagonist*innen des langfristigen Projekts der Verbesserung der Landwirtschaft beschrieben ihre Ziele oftmals in explizit alchemistischer Terminologie. Manche von ihnen verglichen die Verwendung von Kompost als Düngemittel mit dem alchemistischen Prozess der Fäulnis (nigredo), um zu erklären, wie aus Tod neues Leben entsteht. Andere setzten die Fähigkeit eines Samens, eine Pflanze hervorzubringen, die wiederum neue Samen hervorbringt, mit der alchemistischen Kraft der Vervielfachung (multiplicatio) gleich, die zu einer Steigerung der transmutativen Kraft des Steins der Weisen führen sollte. Wieder andere erweiterten die alchemistische Vorstellung der Transmutation (transmutatio) zu einer umfassenden und übergreifenden Kategorie der physikalischen Verwandlung, deren Gültigkeit sich nicht auf das Gebiet der Mineralien und Metalle beschränkte, sondern auch das Pflanzen- und Tierreich betraf. Indem die Reformer*innen mithilfe fortschrittlichster alchemistischer Forschung traditionelles ökologisches Wissen infrage stellten, wurden sie zu Wegbereiter*innen einer frühneuzeitlichen Version von Umwelttechnik. Ihre Vision war ein wissenschaftlich fundiertes Utopia ohne Mangel und Entbehrungen oder, in ihren Worten, die „Wiederherstellung des Garten Eden auf Erden“.

Worlidge Systema Agriculturae, 1698.

Ein Handbuch zur Viehzucht aus dem siebzehnten Jahrhundert. Diese populären Texte nahmen im Laufe des Jahrhunderts immer mehr Alchemie, Chemie und Mineralogie auf. Quelle: John Worlidge, Systema Agriculturae, Being the Mystery of Husbandry Discovered and laid open (London, 1698), Frontispiz. Öffentliche Domäne.

Ercker saltpeter, 1754.

Ein deutsches Zentrum für die Herstellung von künstlichem Salpeter aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Der üppige Pflanzenwuchs auf den Salpeterhügeln deutete auf Düngemöglichkeiten hin. Quelle: Lazarus Ercker, Beschreibung allerfürnemisten mineralischen Ertzt und Berckwercksarten (Prag, 1574), fol. 134. Öffentliche Domäne.

Ein Schlüssel zu den ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart?

Die aktuellen Umweltkrisen haben das Bewusstsein für die möglichen negativen Auswirkungen des Menschen und der von ihm geschaffenen industriellen chemischen Landwirtschaft auf die Nährstoffkreisläufe des Bodens und die natürlichen Systeme geschärft. Vor dem Hintergrund der resultierenden Herausforderungen befasst sich das vorliegende Projekt mit frühneuzeitlichen Beispielen für die praktischen und ethischen Schwierigkeiten, die der Eingriff des Menschen in lokale Ökosysteme aufwirft. Besonderes Augenmerk gilt dabei der umstrittenen Frage, ob frühneuzeitliche Alchemist*innen und Agrarreformer*innen die Natur als eine im Grunde unerschöpfliche, ausbeutbare Ressource betrachteten, die vollständig der Herrschaft des Menschen unterliegt, oder als ein fragiles, endliches Reservoir, das der Verwaltung, Erhaltung und Pflege bedarf. Viele Agrarreformer*innen der Mitte des 17. Jahrhunderts waren Sozialutopist*innen, die von grenzenlosem Wirtschaftswachstum träumten und überzeugt waren, dass der menschliche Erfindungsreichtum – gestützt auf empirische Wissenschaft und Experimente, wenngleich in den Grenzen vorgegebener göttlicher Parameter – ungeachtet aller natürlichen Grenzen landwirtschaftlichen und finanziellen Wohlstand schaffen könne. Diese vorwärtsschauenden Visionäre der Frühen Neuzeit waren untrennbar mit dem Aufstieg von Kapitalismus und Imperialismus verbunden und zugleich beseelt von dem optimistischen Glauben, dass die Wissenschaft als Kraft des Wandels dem Gemeinwohl dienen könne. Das Verständnis dafür, wie ihre Weltanschauung ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur prägte, liefert uns frühneuzeitliche Beispiele für etliche der ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, denen wir auch heute gegenüberstehen.

Hartlib heat map, 1640–60.

Eine Wärmebildkarte mit den Standorten von Samuel Hartlibs Korrespondenzpartner*innen, ca. 1640-1660. Quelle: Scott B. Weingart, scottbot.net.