Forschungsthemen

Albert Einstein, Valentine Bargmann und Peter Bergmann bei der Arbeit an einer einheitlichen Feldtheorie, Princeton. 1940. Aigner, Lucien (1901–1999) © Copyright. Gelatin silver print, 8 x 9 7/8 in. (20 x 25 cm). Purchased as the gift of Katherine D. and Stephen C. Sherrill (PA 1971, and P 2005, 2007, 2010). Inv. 2015.11.34. Artist's © Addison Gallery of American Art. Addison Gallery of American Art/Phillips Academy/Andover, MA/USA. Unique IdentifierART565344. 

Nr 78
Der Traum der Vereinheitlichung: Die Rolle der Mathematik in der Suche nach der Weltformel
Im Streben nach einem tieferen theoretischen Verständnis der Welt haben sich manche Forschungsfelder der zeitgenössischen theoretischen Physik zu hochformalen und mathematisch komplexen Theoriesystemen entwickelt. Bekannte Beispiele hierfür sind die Stringtheorie und die Quantengravitation. Doch der empirische Erfolg derartiger Theorien lässt bis heute auf sich warten.

Auch in der Physikgeschichte gab es bereits entsprechende Versuche, formale Beschreibungen physikalischer Phänomene auf noch grundlegenderer Ebene zu finden, etwa Einsteins Vereineinheitlichte Feldtheorie und John Wheelers Geometrodynamik. Es sind solche Versuche, anhand derer das Forschungsprojekt „Die Rolle der Mathematik in der Suche nach der Weltformel“ ein historisches Verständnis davon erarbeiten möchte, wie in der theoretischen Physik des 20. Jahrhunderts mithilfe von mathematischen Methoden – im Gegensatz zu traditionellen physikalischen Methoden – der Traum von einer endgültigen vereinheitlichten Theorie verfolgt wurde und die Weichen für die Grundlagenphysik in ihrer heutigen Form gestellt wurden.

Léon Rosenfeld portrait photograph, 1931.

Porträt von Léon Rosenfeld, 1931. Quelle: Niels Bohr Archive.

Im Blickfeld: ein Gründungsdokument der Quantengravitation

Ein erstes aufschlussreiches historisches Beispiel liefert die Arbeit von Léon Rosenfeld, einem belgischen theoretischen Physiker, der vor allem als enger Mitarbeiter des dänischen Physikers Niels Bohr bekannt ist und ein engagierter Verfechter von dessen Interpretation der Quantenmechanik war. Doch vor Beginn der Zusammenarbeit mit Bohr im Jahr 1931 unternahm Rosenfeld als erster Forscher den Versuch einer quantentheoretischen Beschreibung („Quantisierung“) des Gravitationsfeldes im modernen Sinn. Ursprünglich waren Quanteneffekte und Gravitationseffekte theoretisch und phänomenologisch getrennt voneinander betrachtet worden. So beschreibt die Quantenmechanik die – seinerzeit erst kurz zuvor entdeckten – Quanteneigenschaften des Mikrokosmos, wohingegen die Allgemeine Relativitätstheorie, auf geometrische Art und Weise, die Wirkweise der Gravitation beschreibt. Doch die empirische Notwendigkeit, auch das elektromagnetische Kraftfeld quantenmechanisch zu beschreiben, sowie die Arbeit an formalen Darstellungen desselben – insbesondere an der sogenannten Quantenfeldtheorie – öffnete zugleich die Tore für theoretische Spekulationen über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Quantisierung des Gravitationsfeldes.

Rosenfeld entwickelte nun Methoden für die formale Behandlung einer solchen Quantisierung, und zwar sowohl für das gesamte Gravitationsfeld als auch für lineare Näherungen an dieses. Doch unmittelbar nach Beendigung seiner bahnbrechenden Arbeit wandte er sich erstaunlicherweise vollständig von dieser Aufgabe ab. Für den Rest seines Lebens stritt er die physikalische Relevanz und die Notwendigkeit der Quantisierung des Gravitationsfelds vehement ab. In einem Vorlesungsskript zur Quantenfeldtheorie von 1932 erklärte Rosenfeld:

„Durch die ersten Erfolge der Theorie der Quantisierung des Strahlungsfeldes konnte man einen Moment lang annehmen, dass diese Methode im Rahmen der Quantenmechanik eine strenge mathematische Formulierung des Korrespondenzprinzips darstelle. Doch in Wirklichkeit […] kann der neue Formalismus lediglich als ein symbolisches Rechenverfahren aufgefasst werden.”

Das Korrespondenzprinzip, das die quantentheoretische und die klassische Beschreibung eines physikalischen Systems miteinander in Verbindung bringt, hat somit laut Rosenfeld nur für Systeme von experimentell nachgewiesener quantenmechanischer Natur Bedeutung. Das Prinzip selbst verfügt über keinerlei inhärente Vorhersagekraft, und mithin lässt sich mit mathematischen Methoden, die dieses Prinzip auf irgendeine Weise kodifizieren, die hypothetische quantenmechanische Natur eines klassischen physikalischen Systems wie dem Gravitationsfeld nicht verlässlich vorhersagen und beschreiben. Folglich kann die Nutzung jeglicher derartigen Methode nur als Akt der Mathematik betrachtet werden, nicht als einer der Physik.

Gravitationswirkungen Licht (Detail).

Detail der Titelseite eines Artikels von Rosenfeld über die Quantisierung der Schwerkraft, 1930. In: Alexander S. Blum und Dean Rickles (Hgs.): Quantum Gravity in the First Half of the Twentieth Century: A Sourcebook. Online-Version unter HTTPS://EDITION-OPEN-SOURCES.ORG/SOURCES/10/

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Der Vorrang der Erfahrung vor Ideen und Formalismus

Doch welche Faktoren haben zu dieser Abkehr Rosenfelds geführt? Seine Arbeit zur Quantisierung der Gravitation war zweifellos bahnbrechend. Allerdings war sie kein kompletter Erfolg, denn Rosenfeld gelangte nicht zu einer vollständigen Quantisierung des Gravitationsfeldes. Man kann sich daher vorstellen, dass er empfänglich war für Ideen und Überlegungen die sein Scheitern erklären konnten. Für seine Zusammenarbeit mit Bohr ist er dann vermutlich in dieser Gemütsverfassung in Kopenhagen eingetroffen, wo Rosenfeld eine physikalische Praxis erlebt haben muss, die im Gegensatz zu seinen vorherigen Gewohnheiten dem Empirischen den Vorrang vor dem Formalismus gab.

Gleichzeitig entsprach Bohrs wissenschaftliche Methodik in hohem Maße Rosenfelds Auffassung des dialektischen Materialismus, einer auf der marxistischen Philosophie gründenden Weltanschauung. In seinem berühmt-berüchtigten Aufsatz „The Strife about Complementarity“ von 1953 erklärte Rosenfeld, dass, „im Gegensatz zum Idealismus“, der Materialismus „die Bildung unserer Ideen und Begriffe als Ergebnis eines Prozesses der schrittweisen Anpassung des Geistes an die Erfahrung“ betrachte. Insofern stünden aus materialistischer Sicht „Ideen nicht am Ursprung, sondern am Ende dieses Prozesses“. Wenn man dagegen den Ideen den Vorrang einräume, also glaube, „dass unser Geist den Phänomenen seinen souveränen Stempel aufdrückt“, führe das laut Rosenfeld dazu, dass man sich lediglich mit den formalen Aspekten von Theorien befasse.

Rosenfelds ernsthafte Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus sowie seine Zusammenarbeit mit Bohr, in dessen Arbeit er diese Auffassungen verwirklicht sah, bildeten für ihn möglicherweise einen natürlichen und willkommenen Rahmen, um die Defizite seiner Forschung zur Quantisierung des Gravitationsfelds zu erklären.

Niels Bohr et al

Von links nach rechts: Niels Bohr, Wolfgang Pauli (hinten), Lothar Nordheim, Erwin Fues und Léon Rosenfeld im Gespräch, 1929 (Detail). Quelle: Niels Bohr Archive.

Vereinheitlichung als Triebkraft der Mathematisierung?

Die Bedeutung dieser historischen Fallstudie beschränkt sich nicht nur darauf, Rosenfelds Meinungsumschwung zu erklären. Vielmehr führt sie auch vor Augen, dass weder die Anwendung mathematischer Methoden bei der Suche nach einer endgültigen oder vereinheitlichten Theorie, noch die Kritik an diesem Vorgehen ein rein modernes Phänomen ist. Dergleichen wurde nämlich bereits in den Anfangstagen der Quantenfeldtheorie praktiziert und erkannt.

Doch warum hat die Entwicklung und Anwendung derartiger formaler, nicht empirisch begründeter Methoden nicht an Dynamik eingebüßt? Dies zu fragen lohnt insbesondere deshalb, da derartige Methoden bislang keine Anwärter auf eine Finale Theorie hervorgebracht haben, die im Einklang mit dem Experiment stehen – was normalerweise ein fundamentales Ziel der Physik ist. Folgt man Rosenfelds Argumentation gegen den Idealismus, dürfte wohl das programmatische Motiv der Vereinheitlichung selbst ein Ursprung der Benutzung derartiger Methoden sein. Doch um zu klären, ob dem tatsächlich so ist, bedarf es weiterer historischer Fallstudien zur Nutzung von mathematischen Praktiken bei der Gewinnung physikalischer Erkenntnisse.

Bohr, Rosenfeld, Tisvilde 1931.

Niels Bohr und Léon Rosenfeld in der Nähe von Bohrs Sommerhaus in Tisvilde, Dänemark, 1931. Quelle: Niels Bohr Archive.