Die neue Lise-Meitner-Forschungsgruppe des MPIWG, „China in the Global System of Science“, wird sich systematisch und umfassend mit diesen Entwicklungen beschäftigen und sich dabei insbesondere dem Studium der Rolle des politischen Regimes und anderer gesellschaftlicher Strukturen als Umweltfaktoren für Wissenschaft im heutigen China, in der internationalen akademischen Zusammenarbeit und in der Weltwissenschaft widmen.
Die chinesische Regierung und die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) haben in den letzten Jahren mit zunehmender Vehemenz ihre Ambition formuliert, China zu einer führenden Wissenschaftsmacht zu machen und eine massive Steigerung chinesischer Beiträge zum globalen Wissenschaftssystem gefordert. Im Vergleich zu den Plänen für die Modernisierung von Wissenschaft, Technologie und Ausbildung, die seit Beginn der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 formuliert wurden, sind die aktuellen Politikprogramme und Maßnahmen weit umfassender und vielfältiger. Darüber hinaus betonen sie weiterhin die Notwendigkeit genuin „chinesischer“ Beiträge aber lassen einen reinen Techno-Nationalismus hinter sich, denn die Erhöhung chinesischer Beiträge wird quer durch alle Disziplinen gefordert − auch der Ruf nach einem „System der Philosophie und Sozialwissenschaften mit chinesischen Besonderheiten, das die sozialistischen Praktiken des Landes berücksichtigt“ wird erneuert.
Wissenschaft als politischer Wert
Gleichzeitig gibt es, besonders in lokalen Kontexten in China, Anzeichen für die steigende Bedeutung „echter“ wissenschaftlicher Analysen, mit anderen Worten: Wissenschaft wird wieder als ein Wert an sich und für den politischen Prozess erachtet. Und dies in einer Gesellschaft, in der Wissen und wissenschaftliche Autorität traditionell zwar schon immer einen hohen Stellenwert hatten, die moderne Wissenschaft jedoch seit dem Beginn der Herrschaft der KPCh in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Politik und Ideologie stets untergeordnet war. Das Ausmaß, in dem Wissenschaft heute auf lokaler Ebene z.B. in die Entwicklung von innovativen Politiken oder governance-Formen eingebunden wird, oder die immer öfter bemühten Verweise auf spezifische wissenschaftliche Studien und Daten während öffentlicher Proteste gegen Umweltverschmutzung, sind nur zwei Beispiele für diesen offensichtlichen Trend.
Entwicklungen in der Wissenschaft in China analysieren und verstehen
Neben einer genauen Darstellung der Strukturen, Dimensionen und Normen der gegenwärtigen chinesischen Wissenschaftspolitik und der Interaktionen von Wissenschaft und Politik und speziell dem autoritären politischen Regime in China, versucht die Lise-Meitner-Forschungsgruppe die aktuellen Entwicklungen im Wissenschaftssystem in ihrer ganzen Komplexität zu analysieren und zu verstehen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Untersuchung politischer und nicht-politischer Versuche der Steuerung von wissenschaftlichen Communities, Netzwerken und Individuen in China und in der internationalen Zusammenarbeit, aber auch eine Analyse der Handlungsfreiheit von Wissenschaftler*innen. Man muss sich nur das Frühstadium der Covid-19-Pandemie in China ansehen, um Paradoxe zu erkennen: Während einerseits wissenschaftliche Analysen und die Veröffentlichung von Informationen zu der in China aufkommenden Erkrankung stark politisch kontrolliert wurden (und werden), arbeiteten chinesische Wissenschaftler*innen andererseits unermüdlich, veröffentlichten umgehend ihre ersten Ergebnisse und tauschten über verschiedene wissenschaftliche Kanäle und Kooperationen auf einer breiten Basis global Daten aus.
Eine weitere Frage ist, welche gesellschaftlichen Normen, welche Ethik und Prinzipien im Spiel sind, wenn wir Konvergenzen oder Divergenzen in der wissenschaftlichen Praxis in China im Vergleich mit anderen Regionen der Welt beobachten. Forscher und Forscherinnen, die mit der Erwartung nach China gehen, dort scheinbar uneingeschränkte Experimentiermöglichkeiten anzutreffen, finden immer wieder mediale Beachtung. Wenn es diese größere Freiheit tatsächlich gibt, ist sie dann auf bewusste politische Strategien zur Schaffung eines Standortvorteils für die Wissenschaft in China zurückzuführen oder beruht sie vielleicht auf einer anderen Forschungsethik oder gesellschaftlichen Einstellung gegenüber dem, was moralisch und rechtlich erlaubt ist oder sein sollte (z.B. Tierversuche), um wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen?
Eine wissenschaftssoziologische Perspektive
Im Gegensatz zu den umfangreichen Erkenntnissen, die in Studien zur chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie zur Epistemologie und Entwicklung einzelner wissenschaftlicher Disziplinen in China gewonnen wurden – von denen viele von Kolleginnen und Kollegen hier am MPIWG durchgeführt werden – scheinen wir im Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen im chinesischen Wissenschaftssystem und dessen globale Integration lediglich über ein anekdotisches und vor allem quantitatives Verständnis zu verfügen. Hier möchte die Forschungsgruppe mit einer explizit wissenschaftssoziologischen Perspektive anknüpfen und sich dabei insbesondere auf die politischen und gesellschaftlichen Umwelten des Wissenschaftssystems im heutigen China konzentrieren. Wir wollen damit auch einen Beitrag zur vergleichenden Forschung und Theorie leisten, der über China als „Fallbeispiel“ hinausgeht, wie zum Beispiel in unserem Gemeinschaftsprojekt The Merton Project: Science and Political Regimes in the 21st Century formuliert wird. Die Mitglieder dieser interdisziplinären Forschungsgruppe werden die vielen Facetten des beeindruckenden Aufstiegs Chinas im modernen Wissenschaftssystem sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler und globaler Ebene erforschen. Der Begriff „Wissenschaft“ („science“) wird hier inklusiv verwendet und umfasst alle wissenschaftlichen Disziplinen, einschließlich der Sozial- und Geisteswissenschaften.
Herausforderungen und Erwartungen
Einen solch breiten Forschungsrahmen zu stecken ist natürlich nicht ohne Herausforderungen. In den Projekten dieser Forschungsgruppe gehen wir von der Annahme aus, dass Wissenschaft ein globales Funktionssystem ist, das gemeinsame Institutionen, Ziele, Organisationen, Inklusionsformeln, Netzwerke und viele weitere Elemente impliziert, die die Strukturen des Wissenschaftssystems bilden und Nationalitäten und Grenzen verschwimmen lassen. Eine wichtige Voraussetzung für die von der Gruppe durchgeführten Studien wird daher sein, mit größter Vorsicht vorzugehen und kontinuierlich zu klären, was China oder chinesisch in diesem Kontext tatsächlich bedeutet und ob diese Kategorisierung in einer Selbstbeschreibung oder durch Zuschreibung erfolgt. Sind wissenschaftliche Aktivitäten in China gemeint, oder die von Teilnehmern im globalen Wissenschaftssystem, die sich (z.B. aufgrund von Staatsbürgerschaft oder Abstammung) selbst als chinesisch verstehen oder von anderen Teilnehmern als chinesisch identifiziert werden, oder solche von Forschern, die mit Institutionen in der VR China verbunden sind? Weiterhin wird sich die Forschungsgruppe zwar auf das gegenwärtige China konzentrieren, jedoch wird jede Studie darauf abzielen, eine erschöpfende Analyse zu sein, die natürlich auch historische Perspektiven mit einbezieht.
Erste Forschungsprojekte
Zu den ersten Projekten, die von einzelnen Gruppenmitgliedern durchgeführt werden, gehören eine Studie über das Navigieren chinesischer Polarwissenschaftler*innen zwischen Forschung und Diplomatie, eine Analyse der Internationalisierungsstrategien chinesischer Universitäten, eine Studie zur Rolle von Wissenschaft und Wissenschaftler*innen in der chinesischen Lokalpolitik, sowie eine Untersuchung der scheinbaren Wechselbeziehung zwischen politischen Initiativen und der Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen und Communities in China. Die Gruppe wird auch an gemeinsamen Publikationsprojekten arbeiten, wie z.B. Gauging China's Global Scientific Expansion (Arbeitstitel) und Science and Democratic and Authoritarian Social Structures (Arbeitstitel), und freut sich darauf, am MPIWG Gäste zu empfangen und Workshops durchzuführen.