Prozesslandschaften wie diese verkörpern den abstrakten Begriff der „Petromoderne“ - die bis heute andauernde historische Epoche, in der die Gesellschaften auf dem Konsum von billiger, fossiler Energie und den durch Erdölprodukte ermöglichten Annehmlichkeiten beruhen. Mit der Analyse solch exemplarischer Geografien leistet unser Projekt einen Beitrag zu einer Kulturtheorie der petrochemischen Moderne und des Anthropozäns.
Austausch und Expansion: ein fossil-ökologisches System
Die Produkte der Petrochemie reichen tief in unsere moderne Lebensweise hinein: als Kraftstoffe ebenso wie als Grundstoffe von Pharmaka, Kosmetika und jeglicher Art von Kunststoff. Aus der Vogelperspektive wird jedoch noch ein weiterer, weniger offensichtlicher, doch nicht minder existenzieller Aspekt dieser Industrie erkennbar. Nördlich von Rhein und Maas liegt „Westland“, die „gläserne Stadt“, eines der größten Gewächshausgebiete Europas. Dort wachsen die berühmten niederländischen Tomaten, Gurken und Salatköpfe in einer künstlichen Landschaft und einer ebenso künstlichen Atmosphäre heran. Die Konzentration des von Pflanzen benötigten Kohlendioxids wird hier künstlich erhöht. Seit einigen Jahren gelangt dieses Kohlendioxid durch ein mehrere Hundert Kilometer langes spezielles Pipelinesystem direkt aus den Raffinerien im Hafen in die Gewächshäuser, ebenso wie die Abwärme für die Beheizung der „gläsernen Stadt“.
Fossile Materialität dient somit nicht nur als Treibstoff von Motoren und damit technischen Stoffwechseln, sie wird vielmehr zu einem unmittelbaren Bestandteil des menschlichen Stoffwechsels. Der reguläre Stoffwechsel zwischen Tieren und Pflanzen in Form des Austauschs von Kohlendioxid und Sauerstoff in geschlossenen Kreisläufen, sowie die tiefe evolutionäre Bindung des Menschen zum Feuer werden entschieden erweitert, wenn Kohlenstoff aus den Tiefen der Naturgeschichte von heutigen Organismen aufgenommen wird. Das Gedeihen pflanzlicher und, in der Folge, menschlicher Organismen wird als eine Art Subsystem der industriellen Petrochemie erkennbar. Hafen, Raffinerien und Gewächshäuser verschmelzen zu einem neuartigen, fossil-ökologischen System.
Komplexe Verbindungen: chemische Katalyse und historische Prozesse
Zu den bedeutendsten, auf dem Luftbild erkennbaren Anlagen gehören die Raffinerien. Hier erst wandelt sich Erdöl von einem natürlichen Rohstoff zu einem Treibsatz der Technik. Insbesondere die chemische Katalyse, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem essenziellen Werkzeug der petrochemischen Technologie geworden ist, erlaubt die gezielte Beschleunigung und Kontrolle chemischer Reaktionen. Metallische Katalysatoren ermöglichen das Cracken, das Hydrieren, Aromatisieren, Reformieren und das Cyclisieren von Molekülen, um so „science-fashioned molecules“ („wissenschaftlich konstruierte Moleküle“) zu erzeugen, wie es in einer Standard-Oil-Werbung von 1946 hieß. Diese Art der molekularen Mobilisierung trägt ganz wesentlich zur Dynamik des Anthropozäns bei: keine „Great Acceleration“ („Große Beschleunigung“) ohne chemische Akzeleration.
Erdölbasierte Kraftstoffe und Materialien sind eine notwendige Voraussetzung der modernen Mobilität – ebenso wie der modernen Kriegsführung, und damit zentrale Treiber des Geschichtsprozesses. Doch die geplanten Formen des Transports (oder der Zerstörung) sind nur ein Aspekt ihrer Auswirkungen. Gleichzeitig werden als Nebenwirkung des motorisierten Verkehrs komplette Ökosysteme umgestaltet, ob durch die Zersiedelung der Landschaft entlang von Autobahnen, oder durch den Schiffsverkehr im Suezkanal, der die Biodiversität im Mittelmeer durchgreifend verändert hat.
Auch die Agrarchemie hat erhebliche Auswirkungen auf die Biodiversität. Ebenso wie die Gewächshäuser der „gläsernen Stadt“ sind auch alle Formen der Landwirtschaft unter freiem Himmel eng mit der Petrochemie verknüpft. Kunstdünger, synthetisiert aus Wasserstoff (welcher aus Erdgas gewonnen wird) und Stickstoff (welcher aus der Atmosphäre stammt) verknüpfen Landwirtschaft und globale Biosphäre mit den Reaktoren petrochemischer Anlagen. Was auf den ersten Blick als abgeschlossener, eingehegter, chemischer Prozess in einer Raffinerie erscheinen mag, berührt durch seine Produkte die offenen Prozesse der Menschheits- und Naturgeschichte. Und da chemisch manipulierte Moleküle auch eine Grundlage ökonomischer und politischer Macht in der Moderne darstellen, werden wissenschaftliche Ressourcen verstärkt zur Erkundung und Mobilisierung fossiler Moleküle in Bewegung gesetzt: ein auch im wissenschaftlich-technologischen Sinn sich selbst verstärkendes System.
Die Geschichte der Katalyseindustrie bietet besonders dichte Beispiele für derartige Wechselwirkungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die Ammoniaksynthese mit künstlichen Mehrsstoffkatalysatoren und Hochdruckreaktoren aus geostrategischen Motiven, und zwar wegen der Bedeutung von synthetischem Ammoniak für die Produktion sowohl von Düngemitteln wie von Munition. Es waren also weltpolitische Zusammenhänge, die Innovationen auf mikrochemischer Ebene hervorbrachten, die dann wiederum – mittels synthetischer Munition im Ersten Weltkrieg – den Weg in ein neues Kapitel der Geschichte bahnten.
Die Petromoderne als historische Epoche
Im nächsten historischen Schritt waren es die geopolitischen Aspekte der für die Motorisierung unabdingbaren Kraftstoffe, die entscheidend waren für den Transfer der technischen Plattform der katalytischen Synthese auf das Gebiet der Petrochemie. Auch in diesem Zusammenhang ist Wissenschaftsgeschichte weit mehr als lediglich akademische Geschichte. In den 1920er- und 1930er-Jahren betraten Industrieunternehmen wie die IG Farben, Standard Oil und Shell als mächtige, kapitalkräftige und historisch höchst spezifische Protagonisten der Grundlagenforschung die wissenschaftliche Bühne. Im Fall von Shell beispielsweise trug die Geschichte eines globalen Kolonialreichs mit Extraktionsstätten und Raffinerien in Niederländisch-Indien bzw. in der Niederländischen Karibik zu der technisch-wissenschaftlichen Macht eines weltweiten Öl-Konzerns bei.
Die „Petromoderne“ erscheint so als Epoche, in der sämtliche Bereiche von Wissenschaft, Politik, Technologie und Alltagskultur eng mit der Nutzung fossiler Ressourcen verknüpft sind. Was Ökonomien, Wissenschaften und Politiken der Epoche prägt, ist über deren Materialität hinaus eine spezifische Form der Rationalität, fassbar als „fossile Vernunft“. Diese zu verstehen und einer entsprechenden Kritik zu unterziehen, ist eine Aufgabe von Epistemologie und Kulturtheorie, und eines der programmatischen Ziele dieses Projekts.
Einerseits ermöglicht das fossile „Energieregime“ spezifisch moderne Formen des Lebens und Wissens. Umgekehrt sind es erst die ökonomischen, energetischen und technischen Erfordernisse eben dieses „modernen Lebensstils“, die Geologen und Industrie-Paläontologen dazu bringen, Naturgeschichte mit dem Ziel zu erforschen, deren petrochemische und energetische Potenziale freizusetzen. Harte Faktoren wie Technik und Industrie, aber auch sogenannte weiche Faktoren wie Lebensstile, Wertesysteme und kulturelle Erwartungen, einschließlich politischer Abgründe und brutaler Ungerechtigkeiten wirken zusammen. Der Anthropos erscheint als eine Art „Mitstreiter“ („Companion“) der fossil-künstlichen Moleküle der Petrochemie. Sogar das „Digitale“, oftmals beschrieben als Ausweg aus den alten fossilen Industrien, ist zutiefst mit fossiler Energie und Vernunft verwoben, ein Gesichtspunkt, der weiterer Forschung auf den Gebieten von Medientheorie und Epistemologie bedarf.
Aus der digitalen Google-Maps-Perspektive von oben, produziert von einem mit fossilen Kraftstoffen in den Himmel geschossenen Satelliten, erscheint das alles in einem großen Schaubild miteinander verknüpft. Indem wir den Gegenstand gleichermaßen historisch, geografisch und philosophisch fokusieren, legen wir Zusammenhänge hinter dem Gesamtbild frei. So soll ein Einblick gewonnen werden in die nicht selten verstörenden Mechanismen der Petromoderne in ihrer Materialität und Rationalität.