Die Begriffe „globale Erwärmung“ und „globales Klima“ sind in der heutigen Klimaforschung allgegenwärtig. Sie haben sich nicht nur zu zentralen Gegenständen dieser Wissenschaft entwickelt, sondern sind deren – manchmal politisierte – Sinnbilder im öffentlichen Bewusstsein. Unter Klima versteht man heute nicht mehr nur das durchschnittliche Wetter an einem bestimmten Ort, sondern auch den Durchschnitt in Bezug auf die gesamte Erde. Doch wann und wie tauchte diese Vorstellung von einem einheitlichen weltweiten Klimasystem auf?
In meinem Forschungsprojekt „From Herodotus to Global Circulation“ („Von Herodot bis zum globalen Kreislauf“) untersuche ich die Entwicklung des aufstrebenden Forschungsgebiets der Klimatologie vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert und konzentriere mich dabei auf die langsame und stets umstrittene Verschiebung des Interesses von regional-geografischen auf physikalische und atmosphärische Fragen. Anhand der Geschichte der Sammlung und Verwendung von Daten verfolge ich das Entstehen eines frühen Begriffs von Klima als globales Phänomen, der sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts herauskristallisierte.
Um die räumliche Dimension in der Entwicklung der Klimawissenschaft besser zu verstehen und bildlich darzustellen, habe ich kürzlich zusammen mit meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Erna Andersson das digitale Begleitprojekt „Mapping Climatology“ („Klimatologie kartieren“) gestartet. Unter Verwendung der Platin-Software des MPIWG haben wir begonnen die Herkunftsorte der Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts von europäischen Praktikern verwendeten Klimadaten zu ermitteln und zu visualisieren. Diese Daten wurden an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gesammelt und erlaubten den Klimatologen, Klimaverhältnisse nicht nur innerhalb regionaler und kontinentaler Grenzen zu vergleichen, sondern auch Tabellen und Karten der klimatischen Bedingungen und Phänomene über den gesamten Globus herzustellen (Abb. 1).
Zurzeit werten wir die drei deutschen Zeitschriften aus, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die meisten klimatologischen Artikel veröffentlicht haben: Petermanns Mitteilungen, die Geographische Zeitschrift und die Meteorologische Zeitschrift. Um die geografische Ausdehnung der deutschen Klimawissenschaft zu verfolgen, wählen wir alle Beiträge aus, die qualitative und/oder quantitative Daten aus nichteuropäischen Gegenden verwenden. Nach dem Geotagging der Artikel markieren wir die Ursprungsorte auf einer interaktiven Weltkarte, die es Benutzern ermöglichen wird ihren eigenen Forschungsfragen nachzugehen (siehe die Beispielkarte für den Zeitraum 1895–1899 in Abb. 3).
Schon auf den ersten Blick zeigen die Karten die globale und koloniale Ausdehnung der Klimatologie im späten 19. Jahrhundert – von Grönland bis Südafrika und von Indien bis zu den pazifischen Inseln. Deutsche Klimaforscher – oder besser gesagt die Autoren, die in deutschsprachigen Zeitschriften veröffentlichten – nutzten nicht nur Daten deutscher Wetterstationen und Expeditionen, sondern hatten Zugang zu Daten von einer Vielzahl von Orten rund um die Welt. Während ein offizielles internationales meteorologisches Beobachtungsnetz Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht mehr als eine ehrgeizige Idee war, existierte zu dem Zeitpunkt bereits ein dichtes informelles Netzwerk, innerhalb dessen Daten ausgetauscht wurden.
„Mapping Climatology“ visualisiert nicht nur den geografischen Bereich der Klimawissenschaft zu verschiedenen Zeiten, sondern kann auch weitere qualitative Untersuchungen anregen – von der Frage nach der Rolle neuer Beobachtungstechniken bei der räumlichen Erweiterung des meteorologischen und klimatologischen Blickfelds bis zur Frage nach der Verbindung zwischen Datensammlung und wirtschaftlichen oder politischen Entwicklungen wie dem „Wettlauf um Afrika“. In der Musterkarte, die klimatologische Artikel aus Petermanns Mitteilungen in drei verschiedenen Zeiträumen von 1885 bis 1929 visualisiert (Abb. 4 und 5), spiegeln die Daten aus Afrika – vor allem aus den deutschen Kolonien und insbesondere Deutsch-Ostafrika – die koloniale Dimension der Entwicklung von Meteorologie und Klimatologie um die Wende zum 20. Jahrhundert wider.
Eine bildliche Darstellung der Herkunft von Daten kann der Komplexität klimatologischer Forschung natürlich nicht vollständig gerecht werden und ebnet womöglich sogar einige Unterschiede innerhalb der klimatologischen Artikel ein: Die Datenpunkte auf den Platin-Karten unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Arten von verwendeten Daten, und sie zeigen keine unterschiedlichen Grade an Vollständigkeit – oder Dichte – der den Forschern zugänglichen Datenreihen an. Für meine Arbeit zur Entwicklung der Klimawissenschaft liefern die Karten jedoch bereits die visuelle Bestätigung, dass sich die Klimatologen des 19. Jahrhunderts mit globalen Zusammenhängen beschäftigten. Sie zeigen, dass die Klimatologie tief in einen kolonialen Kontext eingebettet war, innerhalb dessen sich die neuen Vorstellungen von einem ineinandergreifenden und weltumspannenden klimatischen System entwickelten. Weiter gefasst, unterstützt „Mapping Climatology“ die These von einer Zeit der raschen Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts, die nicht nur die ökonomische und soziale Sphäre betraf, sondern auch die Bereiche wissenschaftlicher Verfahren und der Umweltvorstellungen. Was die heutige Klimaforschung betrifft, kann die Anerkennung der tieferen Wurzeln des „globalen Klimas“ zu einer kritischen Hinterfragung des Begriffs anregen. Sie kann zeigen, dass die Allgegenwärtigkeit des „globalen Klimas“ heute – mit seiner potenziellen Nivellierung lokaler Besonderheiten – keine notwendige, natürliche Folge der Wissenschaft selbst ist, sondern das Ergebnis eines kontingenten und zutiefst historischen Prozesses.