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Antike Himmel, neue Erkenntnisse: Max-Planck-Forschungsgruppe „ASTRA“ zeichnet die Geschichte des astralen Wissens in Asien nach

Wie können wir das komplexe Geflecht des astralen Wissens entwirren, das Asien seit Jahrtausenden geprägt hat? Von den exakten Wissenschaften der Mathematik und Astronomie bis hin zu den Praktiken der Weissagung und Rituale muss dieser umfassende und vielschichtige Forschungsbereich gründlich erkundet werden. Die Forschungsgruppe „Astral Sciences in Trans-Regional Asia“ (ASTRA) am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin will dieser Komplexität mit innovativen Ansätzen aus der Geschichte und der Philosophie der Wissenschaft begegnen. Die Leitung der Gruppe übernimmt Anuj Misra, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte an der Freien Universität Berlin, der sich auf das Studium der vormodernen islamischen und sanskritischen Astronomie spezialisiert hat.

ASTRA will die Verbreitung der Astralwissenschaften aus „transregionaler“ Perspektive mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem ersten und zweiten Jahrtausend n. Chr. nachzeichnen. Zu diesem Zweck wollen die Forschenden das Zusammenspiel zwischen astralen Praktiken, religiösen Überzeugungen, wissenschaftlichen Theorien und kulturellen Normen untersuchen. Die Gruppe will die räumliche Verbreitung dieser Praktiken über Handelswege, intellektuelle Netzwerke und mündliche Überliegerungen nachvollziehen und auf diese Weise die dynamische Fortentwicklung des astralen Wissens in zahlreichen Gesellschaften Asiens innerhalb des eurasischen Raums näher beleuchten. Über diesen breit angelegten Ansatz will sie veranschaulichen, wie Wissen historische und geografische Grenzen überwunden hat und welchen Einfluss dies sowohl auf das Wissen selbst als auch auf seinen soziokulturellen Rezeptionskontext hatte.

„ASTRAs vielschichtiger Forschungsansatz fügt sich perfekt in das MPIWG mit seiner integrativen Mission, die den idealen Rahmen für dieses ehrgeizige Projekt bietet“, sagt Misra. „Das MPIWG überwindet eurozentristische Paradigmen und stellt ASTRA auf diese Weise eine einzigartige Plattform zur Verfügung, um sich vorrangig mit subalternen Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte auseinanderzusetzen. ASTRA hinterfragt gängige Narrative und fördert einen inklusiveren und differenzierteren Blick auf die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse, um Isolationismus und Konformismus vorzubeugen und den Dialog in diesem Bereich ausgewogener zu gestalten.“

Portrait of Anuj Misra

Source: Mona Eendra 2023

Logo of ASTRA Group © Anuj Misra 2023

© Anuj Misra 2023

Im Rahmen des laufenden Projekts „Rolling the Planets, Moving the Heavens“ erkundet ASTRA das komplexe Verhältnis zwischen Spielen und Weissagungen in Südasien. Dabei kommt eine dynamische Form der „performativen Astronomie“ zum Einsatz, die astronomisches Wissen in Spielabläufe integriert. Das Spielbrett dient dabei als Mikrokosmus des Kosmos, während der Akt des Spielens selbst zum Interpretationsmittel des göttlichen Willens wird.

ASTRA konzentriert sich in ihrem Studium der Dynamiken des astralen Wissens in asiatischen Diskursen auf drei zentrale Bereiche:

Im Bereich der „Übertragung“ geht es darum, wie astrales Wissen zwischen asiatischen Gesellschaften im Laufe der Geschichte übermittelt wurde. Über die Analyse linguistischer Strukturen, logischer Rahmen, künstlerischer Ausdrucksformen und technischer Fertigkeiten soll ermittelt werden, wie diese Gesellschaften Konzepte vom Himmel entworfen, Astronomiemodelle entwickelt, ihr Wissen kulturell eingebettet und praktisch angewandt haben.

Im Bereich „Verlagerung“ erkundet die Gruppe, wie Wissen durch Raum und Zeit und durch verschiedene Orte und Kulturen in Asien transportiert wurde. Wie haben sich aus diesem Wissen unterschiedliche Formate entwickelt – von mündlich bis schriftlich, handschriftlich bis gedruckt? Und wie hat das Wissen dank verschiedener Formen des Erhalts und der Anpassung zeitliche Grenzen überwinden können?

Der Bereich „Transkreation“ untersucht, wie Wissen integriert wurde. Dafür setzt er sich mit den Transformationsprozessen auseinander, die externes Wissen beim Kontakt mit neuen kulturellen Landschaften durchläuft. Wie wird „ausländisches“ Wissen im intellektuellen und soziokulturellen Umfeld einer Gesellschaft „lokalisiert“? Aus dieser Perspektive lassen sich gesellschaftliche, historische, philosophische und theologische Faktoren des Wissenserwerbs näher beleuchten.

Dieser dreiteilige Forschungsrahmen kann zwar wertvolle Ergebnisse liefern, doch er erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Exklusivität. Möglicherweise stößt die Gruppe bei ihren Erkundungsreisen durch die komplexe Welt der Astralwissenschaften in Transregional-Asien auch auf neue Wege des Austauschs und der Transformation von Wissen.

ASTRA arbeitet seit Sommer 2024 mit Postdoktorand*innen und wird ab Beginn des Jahres 2025 auch Doktoranden- und Postdoktorandenstipendiat*innen sowie zwei weitere Postdoktorand*innen einstellen. Da die Gruppe großen Wert auf Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit legt, hat sie eine spezielle Position für Forschungskommunikation eingerichtet, um neue Möglichkeiten der Verbreitung ihrer Forschungsaktivitäten und -ergebnisse zu erkunden. Für Oktober 2024 ist ein Launch Event geplant. Die Gruppe wird ihr spannendes Forschungsprogramm bis 2029 fortsetzen.

Biografie: Anuj Misra

Anuj Misra ist Professor für Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte an der Freien Universität Berlin und Historiker und Philosoph der Mathematik, der sich auf das Studium der vormodernen islamischen und sanskritischen Astronomie spezialisiert hat. Er promovierte in Mathematik an der Universität von Canterbury, Neuseeland (2016). Vor seiner Arbeit für das MPIWG leitete er die Projekte „Early Modern Exchanges in Sanskrit Astral Sciences“ (EMESAS, 2019–21) und „Changing Episteme in Early Modern Sanskrit Astronomy“ (CEEMSA, 2021–23) an der Universität Kopenhagen, Dänemark. Er war bereits als Visiting Postdoctoral Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte tätig (Abteilung I „Structural Changes in Systems of Knowledge“, 2018–19).

Ausgewählte Veröffentlichungen

  • Learning with Spheres: The Golādhyāya in Nityānanda's Sarvasiddhāntarāja (Routledge, 2023)
  • The Sanskrit Astronomical Table Text Brahmatulyasāraṇī: Numerical Tables in Textual Scholarship (with Clemency Montelle and Kim Plofker; Brill, 2020)
  • Science and Society in the Sanskrit World (Sammelband, mit Christopher Fleming, Toke Knudsen und Vishal Sharma; Brill, 2023)

Über das MPIWG

Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin ist eines von mehr als 80 Forschungsinstituten der Max-Planck-Gesellschaft und wurde 1994 gegründet. Das Institut ist dem Studium der Wissenschaftsgeschichte gewidmet und analysiert wissenschaftliches Denken und Handeln als historische Phänomene. Seine Projekte sind global und über alle Epochen der Menschheitsgeschichte hinweg angelegt.

Presseanfragen

Stephanie Hood (Stellvertretende Leiterin Kommunikation), Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Boltzmannstr. 22, D-14195 Berlin; shood@mpiwg-berlin.mpg.de; (+4930) 22667 315.